Schrei Aus Der Ferne
Schlagzeile
Abgetaucht! Polizeilich gesucht!
entgegen. Es folgten Einzelheiten der Straftat, für die er verurteilt worden war. Sollten doch die Leser ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen, wenn sie wollten.
Will hatte sich seinen Weg ins Haus erkämpft und wurde von Anita Chandra in der Diele empfangen. »Ich war unschlüssig, Sir. Ich wusste nicht, ob es wichtig ist oder nicht … ich meine, vielleicht ist gar nichts dran …«
»Nein, Sie haben sich völlig richtig verhalten.«
»Ruth ist wach. Schon seit einer Stunde oder so. Ich habe ihr gesagt, dass Sie kommen.«
»Wie geht es ihr?«
»Ein bisschen besser, denke ich. Ruhiger.«
Wahrscheinlich Tranquilizer, dachte Will. »Im Wohnzimmer?«
»Ja. Ach, und Mr Lawson, Andrew, er möchte in seine Schule gehen, nur für ein paar Stunden. Sagt, es sei wichtig. Ich glaube, eine Abwechslung würde ihm guttun.«
»In Ordnung, kümmern Sie sich um einen Wagen. Tun SieIhr Bestes, um ihn an dem Mob da draußen vorbeizulotsen. Übrigens – gut gemacht, dass Sie Ruth letzte Nacht zum Reden gebracht haben.«
»Ich habe eigentlich gar nichts gemacht, sie …«
Will unterbrach sie. »Gelobt wird man in diesem Job sehr wenig und sehr selten. Weisen Sie es nicht zurück.«
Ruth hatte ihren Eltern eine Tasse Tee gebracht und gesagt, sie sollten ruhig noch etwas im Bett bleiben. Allerdings meinte sie, ihren Vater trotzdem schon im Bad gehört zu haben. Andrew hatte am Computer gesessen, in der Hauptsache, um E-Mails von seinem Stellvertreter zu beantworten, und bereitete sich jetzt darauf vor zu gehen. Ruth hatte sich einen Becher Ovomaltine gemacht und saß mit angezogenen Beinen auf dem Sofa.
Zuvor hatte sie ein Buch über Bonnard und sein Haus in Frankreich durchgeblättert, das sie in der Tate Britain an dem Tag gekauft hatte, an dem Beatrice verschwunden war, aber es waren nicht die farbenfrohen Reproduktionen der mediterranen Gärten und des schimmernden Lichts auf dem Meer, sondern die trostlosen Selbstporträts, die er gegen Ende seines Lebens gemalt hatte, zu denen sie immer wieder zurückkehrte: das verbitterte Gesicht, in dem sich die Haut über den Schädel spannt und die Augen dunkle Löcher sind. Bei ihrem Anblick konnte sie den Gedanken an Simon nicht loswerden, an seine eingesunkenen Wangen und den Anschein der Hoffnungslosigkeit, fast der Verzweiflung.
Als Will eintrat, wollte sie aufstehen, aber er signalisierte ihr zu bleiben, wo sie war.
»Wie fühlen Sie sich heute Morgen?«
»Ich weiß nicht. Mehr wie ich selbst, glaube ich.« Sie schwang ihre Füße vom Sofa und setzte sie auf den Boden. »Anita sagt, es gibt keine Neuigkeiten. Dass Sie nicht aus diesem Grund hier sind.«
»Ich fürchte, nein.«
»Ich bin fast erleichtert. Es ist das, was ich am meisten fürchte. Mit jedem Tag, der vergeht. Dass Sie oder ein anderer hereinkommen, um mir zu sagen, dass Beatrice gefunden wurde.«
Er wusste, was sie meinte; wusste, dass sie nicht davon sprach, dass ihre Tochter lebend gefunden wurde. Ein Buch lag aufgeschlagen neben ihr auf dem Sofa, er nahm an, dass sie darin gelesen hatte. Das Gesicht des Künstlers, das ihm entgegenblickte, war sowohl vertraut als auch schockierend: das Gesicht eines Mannes, der so viel Verlust, so viele der Schrecken der Welt erlebt hatte, dass er nicht ertragen konnte, noch mehr davon zu sehen.
Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.
»Anita sagt, Sie glauben, es könnte Ihr Exmann gewesen sein, der die Fotos von Beatrice gemacht und Ihnen gemailt hat?«
»Ja. Es ist möglich.«
»Ich frage mich, warum Sie nicht schon vorher davon gesprochen haben.«
»Ich weiß nicht. Ich vermute, ich wollte nicht, dass Simon in all das hineingezogen wird. Das schien keinen Sinn zu haben. Ich meine, er hat seine eigenen Schwierigkeiten – und ich wollte nicht denken müssen, dass er in irgendeiner Weise in die Sache verwickelt ist.« Sie sah nach unten und wischte sich etwas vom Rock, das nicht da war. »Es waren schließlich nur Fotos.«
»Und eine Botschaft«, sagte Will. »War nicht auch eine Botschaft dabei?«
Ruth sah ihn an, bevor sie sprach. »›Ist sie nicht süß?‹ Mehr stand da nicht. ›Ist sie nicht süß?‹« Sie wartete darauf, dass Will etwas sagte. »Das bedeutet nicht … Es bedeutet überhaupt nichts.«
Aber Will dachte an den Ausdruck auf Mitchell Roberts’ Gesicht, als er ihn einmal im Park beobachtet hatte, wie er einem kleinen Mädchen in einem violetten Anorak die Mütze
Weitere Kostenlose Bücher