Schrei Aus Der Ferne
Grabesstille. Danach habe ich auf eigene Faust weiter ermittelt. Habe Kontakt zu der Familie aufgenommen, deren Tochter am Nachmittag ihres Verschwindens mit Heather Pierce zusammen war – Kelly, so heißt sie, Kelly Efford. Die beiden Mädchen waren auf dem Küstenpfad vom Nebel überrascht worden. Aber zu diesem Zeitpunkt lebten Kellys Eltern schon getrennt und ließen sich scheiden.«
»Waren sie je verdächtig?«
»Wir haben den Vater unter die Lupe genommen. Natürlich. Schien aber nichts dran zu sein. Als ich bei der zweiten Gelegenheit mit ihm sprach, war er in ziemlich schlechter Verfassung, weil die Familie auseinanderbrach und alles. Das hat ihn beschäftigt, und er hat gar nicht mehr über die Geschichte mit Heather nachgedacht. Konnte mir auch nicht mehr sagen als damals.
Aber wer wirklich infrage kam, war dieser Verrückte, dieser Einsiedler in seiner Hütte auf der Klippe. Zu dem binich natürlich auch gegangen, und er war noch exzentrischer als früher. Hat die ganze Zeit vor sich hin gebrummt und Lieder gesummt. Aus alten Filmen und so. Wenn man ihn etwas fragte, kriegte man eher die Abfahrtzeiten für den Bus von Zennor nach Godrevy oder einen Refrain aus ›Oh, Mr Porter‹ zu hören als eine direkte Antwort.
Er gibt zu, dass er das andere Mädchen, Kelly, gefunden und zu sich in die Hütte gebracht hat. Er hat ihr die nassen Kleider ausgezogen und sie über Nacht in sein Bett gelegt. Kein Anzeichen, dass er sie darüber hinaus angefasst hat.«
»Und Heather?«
»Hat er nicht gesehen, sagt er, und was ich auch versucht habe, ich konnte nie das Gegenteil beweisen.«
»Und bei der kriminaltechnischen Untersuchung war auch nichts dabei?«
»Nichts von Bedeutung. Nichts, auf das man einen Fall hätte aufbauen können.«
»Wie lange ist das her?«
»1995.«
»Seither hat es eine Menge Entwicklungen gegeben. Man braucht viel weniger Material für eine DN A-Analyse , und die Methoden sind auch wesentlich feiner geworden. Könnte sich lohnen, die Beweismittel noch einmal untersuchen zu lassen, Kleidungsstücke und dergleichen. Mein Chef hat gute Beziehungen zu jemandem im forensischen Labor. Hatte er jedenfalls. Könnte sein, dass er da ganz schnell etwas durchdrücken kann.«
Cordon schüttelte den Kopf. »Vielleicht, wenn wir grünes Licht bekommen könnten. Aber als ich es ein letztes Mal versucht habe, war die Antwort dieselbe wie zuvor: nicht notwendig, weiter zu investieren. Keiner außer mir war daran interessiert, und deshalb hab ich es auf sich beruhen lassen – kurz davor war ich sowieso aufs Abstellgleis geschobenworden. Jetzt genieße ich die Freuden der Polizeiarbeit auf dem Lande.«
Helen grinste. »Was heißt das? Fälle von Schafdiebstahl und dergleichen?«
»Ganz so aufregend ist es nicht. Aber jetzt, wo Sie hier sind, hat die Sache natürlich mehr Gewicht. Mit diesem zweiten Fall eines verschwundenen Mädchens könnten wir vielleicht etwas in Gang bringen.« Er trank sein Pint aus; Helens Glas war bereits leer. »Wie wollen Sie die Sache handhaben? Die Beweismittel durchsehen? Vernehmungen? Entweder das oder ich kann sie an die Stelle bringen, wo es passiert ist. Und Sie machen von dort aus weiter.«
»Ich möchte mich zunächst über die Fakten informieren und das durchsehen, was Sie damals ermittelt haben.«
»Klingt vernünftig.« Cordon stand auf. »Ich bringe Sie erst mal zu Ihrem Hotel. Das Polizeirevier ist nur einen Steinwurf entfernt. Dort suchen wir Ihnen einen Schreibtisch, an dem Sie arbeiten können.«
Als Helen an der Katze vorbeikam, streckte sie die Hand aus, um sie zu streicheln, wurde aber durch heftiges Fauchen verscheucht.
»So sind sie hier unten, die Einheimischen«, sagte Cordon. »Einige jedenfalls. Erwärmen sich nicht so leicht für Neuankömmlinge.«
Im Hauptraum des Pubs drehten sich die Gäste zu ihnen um und sahen ihnen nach, als sie gingen.
55
Als Ruths Eltern gehört hatten, was passiert war, wollten sie sofort kommen: Erst war ihre Enkelin verschwunden und gleich darauf ihre Tochter ins Krankenhaus gebracht worden.
Andrew hatte sie telefonisch benachrichtigt und dann auf dem Laufenden gehalten. Er hatte ihnen versichert, es sei das Beste, wenn sie zu Hause blieben und Ruth den schlimmsten Schock überwinden ließen, ehe sie kämen.
Er hatte sie nicht sehr lange hinhalten können.
Zuerst mit dem Bus, dann mit dem Zug, einmal Umsteigen und ein Taxi vom Bahnhof und sie waren da: Ruths Vater, groß, etwas gebeugt, schütteres
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