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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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vermutlich von Bissen herrührten, den Striemen auf ihrem Gesäß, dem dünnen Rinnsal aus getrocknetem Blut auf der Innenseite ihres Oberschenkels. Das konnte warten.
     
    Der Name des silberhaarigen Mannes war Samuel Llewelyn Mason Jones. Er war Martinas Großvater und der Patriarch eines lockeren Verbundes von Schwestern, Brüdern, Vettern, Kusinen und Lebensgefährten, die an der Ostküste des Landes mehr oder weniger nach Belieben herumreisten. Cleethorpes, Hunstanton, Wisbech, Market Rasen, Lowestoft, Colchester, bis hinunter nach Canvey Island.
    Martinas Mutter, Gloria, hatte Martina bekommen, als sie gerade sechzehn war; seither hatte sie noch drei weitere Kinder geboren, zwei Jungen und ein Mädchen.
    »Eine wilde Bande, alle zusammen«, sagte Jones. »Ich bin’s, der sie unter Kontrolle halten muss.«
    Will dachte an den rohen Striemen auf dem Gesäß des Mädchens und an das Seil um die Taille des Großvaters, an andere Dinge, die passiert waren oder auch nicht, Dinge, die der alte Mann getan hatte oder auch nicht.
    Martina, so schien es, rannte immerzu weg, eine Gewohnheit, ein Zwang: manchmal nicht weiter als bis zu einem nahen Feldrand, wo sie sich versteckte; manchmal legte sie sich in ein altes Bauernhaus, in einen Traktoranhänger, in ein leeres Ölfass, das auf die Seite gerollt war. Meistens, aber nicht immer, kam sie von allein zurück. Normalerweise am selben Tag. Diesmal war sie seit dem späten Nachmittag des Vortags verschwunden gewesen.
    »Sie haben sie nicht als vermisst gemeldet?«, fragte Will.
    Jones sah ihn an, als wäre Will ein Narr.
    »Haben Sie sie gesucht?«
    »Natürlich. Wir alle. Keine Spur von ihr.«
    »Und sie ist über Nacht weggeblieben?«
    Jones sah ihn ungerührt an. »Sie war irgendwo.«
    »Wissen Sie, wo das gewesen sein könnte?«
    »Fragen Sie sie doch.«
    Aber Martina redete nicht, nicht mit ihrer Mutter oder ihrem Großvater, nicht mit dem Arzt oder den Krankenschwestern, schon gar nicht mit Will. Auch nicht mit Helen, als diese eintraf. Klaglos lag sie da und presste die Augen fest zusammen, als man sie gründlich untersuchte und Abstriche von verschiedenen Teilen ihres Körpers genommen wurden.
    Sie war keine Jungfrau mehr. Vor kurzer Zeit hatte sie Geschlechtsverkehr gehabt, und abgesehen von einigen leichten Abschürfungen, die vermutlich auf die Tatsache zurückzuführen waren, dass sie klein war, gab es keinerlei Hinweise, dass es gegen ihren Willen geschehen war. Auf der Rückseite ihrer Beine und auf ihrer Brust gab es schwache Spuren von Sperma und auch Speichel.
    Als der Großvater davon unterrichtet wurde, zeigte er sich kaum überrascht, sondern grunzte und sah zur Mutter hinüber. »Der Apfel«, sagte er, »fällt nicht weit vom Stamm.«
    Will vernahm ihn weiter, und Helen sprach mit Gloria und dann noch einmal   – ergebnislos   – mit Martina. Weitere Mitglieder der Familie wurden befragt, während Beamte den Wohnwagen gründlich durchsuchten. Wie ein Fliegenschwarm im Hochsommer machten sich Sozialarbeiter über die anderen Kinder her.
    Erst am dritten Nachmittag, als Helen schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, dass Martina etwas sagen würde,erwähnte das Mädchen Mitchell Roberts’ Namen. Zuerst sprach sie nur von Mitchell.
    »Sagen Sie Mitchell, dass es mir gut geht«, sagte sie. »Sonst macht er sich nämlich Sorgen.«

4
     
    Mitchell Roberts lebte und arbeitete bei Rack Fen: Er hatte dort eine hauptsächlich aus Betonstein und Wellblech errichtete kleine Tankstelle mit Werkstatt und einer ebenerdigen Wohnung im hinteren Teil. Sie war weniger als eine Meile vom Lager der Familie Jones entfernt, genauso weit weg war die Stelle, wo Martina gefunden worden war.
    In einer Ecke der Werkstatt unterhielt Roberts ein kleines Lager mit Vorräten für Landwirte, die kamen, um Diesel zu tanken oder einen kaputten Reifen zu ersetzen: Tierfutter und Dünger und verzinkte Futterschaufeln. Hinter der Kasse standen auch Tüten mit H-Milch und Zigaretten zum Verkauf, Schachteln mit Frühstücksflocken und Schokoladenriegel, die ihr Verfallsdatum lange überschritten hatten, außerdem Getränkedosen, Pepsi und 7-Up , lauwarm, weil der Kühlschrank ständig den Geist aufgab.
    Will hatte Roberts per Computer überprüfen lassen, bevor er und Helen aufbrachen. Dieser erste Versuch hatte nicht viel erbracht: keine polizeiliche Akte, keine Vorstrafen. Anscheinend hatte er das Geschäft drei Jahre zuvor übernommen, nachdem es fast genauso lange leer gestanden

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