Schroedingers Schlafzimmer
Nähe des Menschen, in Dörfern und an den grünen Rändern der Städte, am wohlsten fühlte. Der befragte Ornithologe sprach sich daher dafür aus, durch möglichst viel Unordnung im Garten dem kleinen Piepmatz, der kaum mehr als zehn Gramm wog, viele Nistmöglichkeiten zu verschaffen. Außerdem hatte die systematische Zaunkönigbeobachtung einige höchst interessante Verhaltensweisen zu Tage gefördert: Zum Beispiel mußten die Männchen immer mehrere Nester bauen, von denen sich die Weibchen dann das bequemste aussuchten.
So so, dachte Oliver. Im Frühjahr hatte ein Zaunkönigpärchen |281| im Garten genistet, im Rankgerüst für den Wein. Aus einem trauten zaunköniglichen Familienleben war aber nichts geworden, weil sich eine streunende Katze aus der Nachbarschaft über das Nest hergemacht hatte. Oliver nahm an, daß es Josephine gewesen war. Für eine Katze war dieses Verhalten normal, Schrödinger und Josephine paßten gut zusammen: Beide raubten auf ihre Weise fremde Nester aus.
Nach zwei Stunden hatte Oliver seine Aktienpakete verkauft, zwei weitere Stunden blieben ihm bis zu Dos Ankunft, und er setzte sich in ein Eiscafé. Das Azorenhoch Hekate stimmte ihn freundlich und friedlich. Hinzu kam jetzt das Hoch auf seinen Konten, und er beschloß, Schrödinger zu verzeihen. Danach fragte er sich, wie Zauberer eigentlich reisten? Flogen sie, wie alle anderen auch? Und er fragte sich, ob Maschinen, in denen Zauberer saßen, abstürzen konnten? Es war natürlich eine rein hypothetische Frage, da er nicht an Zauberei glaubte. Aber Schrödinger hatte steif und fest behauptet, es sei möglich, den Naturgesetzen Einhalt zu gebieten, wenn es einem gelang, sie zu ignorieren. Das war ein interessanter Standpunkt, aber vermutlich grandioser Unfug.
Oliver wollte jetzt lieber nicht über Flugzeugabstürze nachdenken. Unterschwellig befürchtete er wie viele Menschen, mit Gedanken Unglücke heraufbeschwören zu können. Er wußte, daß das unlogisch war, ebenso irrational wie Schrödingers Behauptung, es sei möglich, die Realität durch intensives Wollen zu steuern. Es war unlogisch, und trotzdem versuchte Oliver an irgend etwas anderes zu denken. Die Maschine mit Do war irgendwo in diesem |282| grenzenlosen Blau über ihm, aufgehängt an nichts als ein paar Naturgesetzen. Um sich abzulenken (er hatte noch genug Zeit dazu), tankte er. Im Sommer tankte er gern. Die Wärme machte den Benzingeruch auf dem Asphalt besonders intensiv. Er lauschte dem angenehm vertrauten Rauschen des Benzins in der Zapfpistole.
Kurz darauf schwenkte er auf den Flughafenzubringer und folgte den Wegweisern zum Ankunftsterminal. Er rollte durch das Verteilerknotensystem aus Betonstelen, Überführungen und Verzweigungen. Der Bau platzte aus allen Nähten, sämtliche Planungen hatten sich als fehlerhaft erwiesen, aber es wurde weitergebaut und weitergeplant. Das war das Leben: mit den Tatsachen Schritt halten. Oliver parkte den Wagen und stieg aus. Als er den Terminalbereich erreichte, war die Maschine gelandet. Das bedeutete, er konnte jetzt ungeniert über alle Formen von Luftfahrtkatastrophen nachdenken, ohne befürchten zu müssen, eine auszulösen, die ihn betraf. Zum Beispiel fragte er sich, wie er sich bei einem Absturz verhalten würde. Was für ein Typ war er? Würde er mit der schönen Blondine auf dem Nebensitz noch schnell Sex haben wollen? Oder würde er die letzte Minute seines Lebens dumpf und gelähmt und verzweifelt vor sich hinbrüten? Zweiteres, befürchtete er.
Er dachte wieder an seinen Entschluß, Do endlich die Wahrheit zu sagen: Es zu tun war folgerichtig, denn er war unschuldig. Er hatte sich aber noch nicht überlegt, wie es danach weitergehen sollte. Was wäre, wenn Do seine Ehrlichkeit mit Ehrlichkeit erwidern würde? Im Moment (und mit den hundertachtzigtausend Euro im Rücken) |283| fühlte Oliver sich stark genug, ihr die Affäre mit Schrödinger zu verzeihen, aber würde er das wirklich können? Das Flugzeug ihrer Ehe war abgestürzt, und Do
hatte
in der letzten Minute Sex gehabt. Oliver spürte die Brüchigkeit seines inneren Friedens.
Die ersten Passagiere tröpfelten durch die Milchglastür des Gates, die sich öffnete und wieder schloß. Do hatte Gepäck, und es würde dauern, bis ihre Koffer aufs Band rumpelten. Früher waren sie mehr oder weniger ohne Gepäck verreist, aber das war schon lange her. Oliver dachte an diese Reisen, und auf einmal fragte er sich, wieso er überhaupt hier stand? Sie verhielten
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