Schroedingers Schlafzimmer
sich so, als wären die Dinge wie immer. Er holte Do ab, nachdem sie bei ihren Eltern gewesen war. Aber in Wahrheit war nichts so wie immer. Warum drehte er sich nicht um und ging? Warum warf er sein Gepäck nicht ab und begann wieder zu reisen? Warum hatten die Quanten in seinem Kopf aufgehört zu tanzen?
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Er war noch derselbe: ihr Vater. Aber er sah fremd aus. Die Halbschale des Kopfverbands wölbte sich über seinen Schädel, starr und weiß wie aus Gips. Do erschrak jedesmal, wenn sie ihn so sah. Es war, als läge sein Gehirn frei, ein Kern aus unvertrauter Substanz, nicht Fleisch, nicht Blut. So brutal begrenzt über seinen Augenbrauen, wirkte sein Gesicht klein und groß zugleich, eine Zone zusammengepferchter Mimik, nackt und isoliert, und doch alleiniger Brennpunkt seiner Ausdrucksfähigkeit. Mehr Gesicht stand ihm nicht zur Verfügung, der Welt gegenüber er selbst zu sein.
Irgendeinen Teil dieses Selbst hatte man ihm entfernt. Es fiel ihm schwer zu reden, aber Do dachte, daß es schon immer so gewesen war. Einmal (sie war gerade zwanzig geworden) hatte sie ihn bei einer längeren Autofahrt gefragt, warum er und ihre Mutter sich getrennt hatten? Er schwieg, während sie immer heftiger auf ihn einredete, ihn anklagte und ihm mit jugendlicher Inbrunst vieles vorwarf: moralisch versagt zu haben, nicht gekämpft zu haben, sie dazu verurteilt zu haben, ihre Liebe teilen zu müssen. Sie sagte, daß Untersuchungen ergeben hätten (damals fing |285| sie an, sich in Sachen Psychologie auf dem laufenden zu halten), daß sie vermutlich nie wieder einem Menschen voll und ganz werde vertrauen können. Und sie sagte, sie wolle wenigstens wissen, warum! Sie habe ein Recht darauf, seine Version der Geschichte zu erfahren. Wenn er nicht bereit sei, darüber zu reden, dann wolle sie auf der Stelle aussteigen. Es war eine eisglitzernde Winternacht. Die Wagenscheinwerfer leuchteten bleich auf der salzbepuderten Landstraße. Statt auf ihre Drohung zu reagieren, schwieg ihr Vater beharrlich weiter. Er konzentrierte sich mit unbewegtem Gesicht aufs Fahren. Irgendwann forderte sie ihn auf, anzuhalten und sie aussteigen zu lassen. Sie sagte, sie werde mit einem anderen weiterfahren. Er hielt nicht an, er wirkte angespannt. In der hügelreichen Gegend war auf Brücken mit Glätte zu rechnen. Und dann plötzlich sagte er: »Deine Mutter ist auch ausgestiegen und mit einem anderen weitergefahren. Das ist meine Geschichte.«
Do saß auf einem der hellgrünen Krankenhausstühle an seinem Bett. Sie wollte sich nützlich machen, aber es gab nichts, was sie hätte tun können. Am Anfang hatte sie ihm immer wieder Hilfe angeboten, ihm Tee geholt, aber er hatte sein Leben lang keinen Tee getrunken und fing jetzt nicht damit an. Sie wollte sein Kopfteil höher oder tiefer stellen, aber er war zufrieden. Endlich begriff sie, daß sie nicht zu Hause war, wo es immer etwas zu tun gab. Gelegentlich besuchten ihn Freunde. Do kannte kaum jemanden. Es war biologisch korrekt, daß er sie als seine Tochter vorstellte, und trotzdem war es ihr auf eine bestimmte Weise unlieb und peinlich. Es kam ihr wie eine unzulässige |286| Verniedlichung vor. Im selben Moment ärgerte sie sich über diese Empfindung, weil sie ihr signalisierte, daß sie sich noch nicht von ihm gelöst hatte.
Einmal sagte er: »Ich habe es nicht als unangenehm empfunden, daß du mir erschienen bist. Nicht auf einer persönlichen Ebene. Ich wußte, daß eine neurologische Störung dahintersteckt, aber das Gefühl, daß du da warst, war schön. Ich bin nicht sehr fantasiebegabt. Früher, als ich im Wagen saß, war die Einsamkeit oft furchtbar und drückend. Ich konnte mich nicht irgendwohin denken. Andere hören im Kopf Melodien oder führen Gespräche. Ich kann das nicht. Ich mußte mich immer pur ertragen, und muß es noch. Und als du vor ein paar Wochen auf einmal ins Zimmer gekommen bist, war das, als wäre ich zum ersten mal nicht mehr mit mir allein. Auf einmal konnte ich reden, in meinem Kopf, weißt du, es war ja alles in meinem Kopf, aber das hat mich nicht gestört. Ich glaube, das Alter ist eine gute Zeit, um verrückt zu werden, es spricht wirklich nichts dagegen. Es war großartig, dich bei mir zu haben, nur leider hat Bosseler herausgefunden, daß es tödlich war. Aber ich sage dir, wenn diese Schmerzen nicht gewesen wären, hätte ich überhaupt nichts dagegen unternommen. Ich hatte ja
mehr
, und nicht weniger. Aber ich kenne mich mit Kopfschmerzen aus: Wenn
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