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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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Zauberer? Du warst so lange mit ihm fort. Vielleicht verstehst du mich ja jetzt etwas besser. Ich mußte bestimmte Entscheidungen treffen, aber warum sollte ich im nachhinein keine Witze darüber machen? Ich finde, du hast ganz richtig gehandelt, auch wenn du nicht darüber sprechen willst. Irgend etwas
muß
ja nun stattgefunden haben, als du mit diesem Schrödinger abgedampft bist. Das ist alles, worauf ich hinauswill. Du brauchst kein weiteres Wort zu sagen.«
    Do herrschte sie an: »Du machst es dir zu einfach! Ich könnte niemals so leben wie du, und ich wehre mich gegen |293| jeden Versuch, unsere Schicksale miteinander zu vergleichen. Ich führe ein völlig anderes Leben.
Ich bin nicht wie du
! Dein Versuch, mein Leben zu benutzen, um deins zu rechtfertigen, ist widerlich!«
    Ihr Vater behielt recht: Sie brauchten weniger als eine Stunde zum Flughafen. Ursel begleitete Do zum Checkin-Schalter und zur Handgepäckkontrolle. Do ließ sich von ihr küssen, doch steif und ohne sich ihr entgegenzubeugen. Sie wußte, was ihre Mutter als nächstes tun würde: sich im Wagen oder schon auf dem Weg dorthin eine Zigarette anzünden.
    Do schritt durch den Metalldetektor und nichts geschah: Sie war nicht da. Von einem bestimmten technischen Standpunkt aus gab es sie überhaupt nicht. Als sie sich umdrehte, nachdem sie ihr Handgepäck entgegengenommen hatte, war ihre Mutter fort. Also war auch sie nichts als eine Erscheinung gewesen, die sich in Luft auflöste, sobald man nicht hinsah.
    Das starke Blau des Himmels auf zehntausend Metern gab ihren Gedanken größere Klarheit. Ihr Vater, irgendwo dort unten: Sie hätte ihn nicht so brüskieren sollen. Vielleicht würde er schon bald sterben müssen. Was war sie für ihn? Was war man überhaupt für andere Menschen? Teil eines bestimmten Erinnerungs- und Gedankensystems. Do dachte an Schrödinger. Er hatte sie behandelt wie eine seiner Art-déco-Trophäen: seine Ariadne-Statuette von Preiss & Kassler oder sein Lempicka-Gemälde. Sein Gedankensystem war ein ästhetisches und kein familiäres. In ihrer Erinnerung an ihn mischten sich viele Aspekte, und alle hatten mit Versäumnissen in ihrem Leben |294| zu tun. Es wunderte sie sehr, daß sie ihm um den Hals gefallen war. Es wunderte sie so sehr, daß sie anfing zu glauben, daß es überhaupt nicht geschehen war. Es widersprach ihrem Wesen, aber es
ent
sprach ihren Träumen. Ich habe all das nur geträumt, sagte sie sich. In gewissem Sinne, dachte Do, war das, was andere von einem glaubten und in einem sahen, verläßlicher und realer als das, was man selbst über sich zu wissen meinte. Sie dachte: Man träumt sich nur; was man
ist
, bestimmen die anderen.
    Sie stellte sich vor, wie Oliver auf sie wartete: klein und breitbeinig, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt und gelegentlich das Gewicht auf die Zehenspitzen vorverlagernd, zwei- oder dreimal, um anschließend wieder zu erstarren. So würde es sein, wenn sie ankäme. Wollte sie ankommen? Unter dem Flügel, der starr wie ein Fakir auf der Landschaft lag, zogen erste Häuserblocks vorüber, Industriegebiete und Randbezirke. Sie waren in etwa so weit vom Zentrum entfernt wie jenes Viertel, in dem sie selbst wohnte. Es beruhigte sie zu sehen, wie klein solche Viertel waren und wie groß der Rest der Stadt. Man konnte sich trennen; es gab genug Platz für alle.
    Als Do Oliver nach der Landung sah, fragte sie sich, ob sie ihn küssen sollte. Bisher hatte sie nie darüber nachdenken müssen, aber jetzt war es nicht selbstverständlich. Oliver küßte sie – sie spürte: aus Gewohnheit. Er nahm ihr den Koffer ab und erkundigte sich nach ihrem Vater. »Die Ärzte sind zufrieden«, sagte sie. »Aber was sollen sie auch sonst sagen, nachdem sie ihn selbst operiert haben? Wer sagt schon, ich hab’s verpfuscht.«
    Plötzlich sagte er: »Ich werde ein paar Dinge aufschreiben. |295| Ich glaube, das sollte ich tun. Bringst du mir eine dieser schwarzen Kladden mit, die ihr verkauft?«
    Sie sah ihn an und sagte: »Oliver, was ist los? Findest du das normal?«
    Er schwieg. Sie holten Jenny und Jonas bei Helma und Mark ab, aßen zu abend und schickten die Kinder ins Bett. Die beiden spürten, daß etwas in der Luft lag, und gehorchten.
    Als sie das Geschirr in die Spülmaschine räumten, sagte Oliver: »Heute war Schrödinger bei mir im Laden.«
    »Ach ja?«
    »Ich nehme an, du weißt, daß er fortzieht?«
    »Nein, wußte ich nicht«, sagte sie. Sie spürte Olivers Mißtrauen: Er glaubte

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