Das Zimmermaedchen
1
S ie hat die Tür geöffnet und den letzten Schritt getan. Bleibt noch mal stehen, dreht sich um, eine Bö bläst Haare ins Gesicht. Das Gebäude liegt erdrückend dort, obwohl seine Front aus Glas ist. So viel Glas, hat Lynn gedacht, vor sechs Monaten, als sie das Gebäude zum ersten Mal sah, so viel Glas und diese aufgeklebten Vogelsilhouetten: Warum nicht Mauer, Stein, Beton? Oder Gitter? Die Bushaltestelle liegt nicht weit entfernt. Ein Taxi wäre um einiges zu teuer. Und jetzt? Sie kennt das Ziel und kennt es nicht. Weiß, was zu tun ist, und weiß es nicht. Folgt dem Weg, der vorgegeben ist. Den Rucksack lässt sie auf den Schultern, muss sich an der Haltestelle auf die Kante der Bank setzen, weil sonst der Platz im Rücken nicht reicht. Sie schaut auf ihre Turnschuhe, verfranst, sie hebt den Blick, an der Haltestelle warten Menschen, die sie nicht kennt. Einer nuckelt ab und zu an einer Zigarette. Ein anderer geht im Wiegetritt auf und ab. Alte Frau studiert Fahrplan im Glaskasten und nutzt Finger als Lesehilfe. An Bushaltestellen hat Lynn gern ihr Spiel gespielt: Was wäre, wenn? Hat sich vorgestellt: Was wäre, wenn keiner mich wahrnähme? Die Menschen sähen nicht an mir vorbei, sie sähen durch mich hindurch. Als existierte ich nicht. Das wäre ebenso schön wie schauerlich. Wenn niemand mich sieht, bin ich zu nichts mehr verpflichtet, wenn niemand mich sieht, gehe ich auf in einer Lösung aus Ruhe und lebe wie unter Wasser. Doch wenn niemand mich sieht, bin ich auch nichts mehr, niemand mehr, nur noch Geist, nein, kein Geist, nur noch Stück Luft, das nicht mal mehr wehen kann, auf immer zum Stillstand verdonnert.
Als der Bus kommt, steht sie auf, ihr Rucksack schrammt an der Wand des Häuschens entlang, kaum hörbares Geräusch. In Bussen immer dieser Gestank von Erbrochenem. Das steckt in den Sitzen drin. Das lässt sich nicht rauskriegen. Der Bus beschleunigt, eine Landstraße, die Kurve legt sich auf Lynns Magen. Rechts vor ihr liest jemand Zeitung. Jede Minute blättert er um, indem er die Hände vor der Nase zusammenführt. Ohne Zeitung sähe das aus wie eine gymnastische Übung. So schnell, denkt Lynn, kann er gar nicht lesen. Lynn hat seit Jahren keine Zeitung mehr angefasst, ihr Ekel vor Druckerschwärze ist zu groß. Sie wird allmählich unruhig, als der Bus sich der Stadt nähert. Ein Mann, vier Reihen vor ihr, trinkt aus einer Büchse Bier und macht plötzlich ohne Grund ein Victory-Zeichen. Aber Lynn schafft es nicht, sich abzulenken. Es nähert sich der Punkt in der Zeit, da sie aufstehen und den Bus verlassen und vom Busbahnhof über die Straße gehen und noch einmal abbiegen und die Haustür aufschließen und die Treppe hochsteigen, die Wohnungstür öffnen und ihre Wohnung betreten muss, in der sie sechs Monate lang nicht gewesen ist. Es wird dunkel sein in der Wohnung. Dunkel und kalt. Die Rollläden werden geschlossen sein. Das war Lynns Schlusstat gewesen vorm Verlassen: Rollläden schließen. Es wird muffeln in der Wohnung. Es wird nach Staub riechen. Nach vertrockneten Pflanzen. Lynn wird niesen müssen. Vielleicht wird ein totes Insekt auf der Fensterbank liegen.
Der Bus biegt in die Remigiusstraße, fährt an der Kirche vorbei. Jeden Sonntag der Sturm der Glockenschläge. Jetzt bremst der Bus, ächzt, Lynn ist aufgestanden und zur Tür gegangen, der Bus knickt seitlich in die Knie, während die Türen aufschmatzen, Lynn ist draußen, die Sonne leuchtet wie ein Spot genau dorthin, wo Lynn steht, der Rest liegt im Schatten der Bäume. Lynn geht gleich los, beobachtet aus den Augenwinkeln ein kleines Mädchen, das in kreuzförmig angelegte Kästchen einen Stein wirft, einbeinig hinhopst und den Stein vom Boden klaubt. Dem Mädchen fallen lange, schwarze Haare ins Gesicht. Dann Hausnummer 7, Treppenstufen, Schlüssel, erste Etage, zweite, dritte, vierte, unterm Dach ihre Tür, Lynn öffnet, und alles ist so, wie sie es sich vorgestellt hat. Aber Lynn zögert nicht. Es wird eine Seite in ihr wach, die sie gut kennt und die sie mag. Lynn ratscht Rollläden hoch, öffnet Fenster, lässt Luft herein und putzt, arbeitet ohne Pause, saugt, wischt, moppt, geht in die Knie, liegt auf dem Boden, steckt Wedel in Ecken, steigt auf Stühle, wischt hohe Oberflächen, quietscht Fensterleder übers Glas, bringt schaumiges Wasser aus dem Bad ins Wohnzimmer und dreckiges zurück, schleppt Müllsäcke mit toten Pflanzen runter, stopft sie in Tonnen, geht zur Telefonzelle, ruft Pizzadienst an,
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