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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Werner
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befasst ist: «Gehe ich nur in der Richtung zum Ausgang, […] glaube ich schon in die Atmosphäre einer großen Gefahr zu geraten, mir ist manchmal, als verdünne sich mein Fell, als könnte ich bald mit bloßem kahlem Fleisch dastehen und in diesem Augenblick vom Geheul meiner Feinde begrüßt werden.»
    Erst seit Ende des 18. Jahrhunderts fand der Begriff Schüchternheit auch in jenem Sinne Verwendung, in dem er uns heute geläufig ist: also zur Beschreibung einer dauerhaften menschlichen Charaktereigenschaft, die sich durch «zaghafte unsicherheit, blöde befangenheit, furcht vor miszerfolg, miszachtung, miszdeutung» äußert, wie Jacob und Wilhelm Grimm im Deutschen Wörterbuch schreiben. In seinem 1797 erschienenen Versepos Hermann und Dorothea etwa ließ Johann Wolfgang von Goethe den Vater des Titelhelden über seinen sonst wohlgeratenen, leider aber etwas verklemmten Sohn klagen:
    Aber ungern seh ich den Jüngling, der immer so tätig
    Mir in dem Hause sich regt, nach außen langsam und schüchtern.
    Wenig findet er Lust sich unter Leuten zu zeigen;
    Ja, er vermeidet sogar der jungen Mädchen Gesellschaft,
    Und den fröhlichen Tanz, den alle Jugend begehret.
    Der altertümlichen Sprache und etwas verqueren Wortstellung zum Trotz lesen sich diese fünf Verse bereits wie eine durch und durch moderne Definition pubertärer Schüchternheit: Wer schüchtern ist, der scheut die Gesellschaft anderer Menschen, und nicht zuletzt den erotisch aufgeladenen Kontakt mit dem anderen Geschlecht.
    Dennoch war der Begriff der Schüchternheit damals nicht notwendigerweise negativ konnotiert: Goethes Zeitgenosse Heinrich Christian Boie etwa galt die Schüchternheit noch als überaus wünschenswertes Attribut. So empfahl der Dichter in seinen idyllischen «Schäferlehren» einem männlichen Werber, dass dieser bei der Brautschau gerade den schüchternen Damen seine besondere Aufmerksamkeit schenken möge:
    Seelenwort sey ihre Rede;
    Schüchtern blicke sie, nicht spröde,
    Nicht mit falscher Scham um sich,
    Und ihr Herz erkenne dich!
    Die Schüchternheit wird hier interessanterweise sowohl in Gegensatz zur kaltschultrigen ‹Sprödigkeit› als auch zur schlangenhaften ‹falschen Scham› (hinter der sich in Wahrheit ein liederlicher Charakter verbirgt) gesetzt, markiert also die goldene Mitte zwischen sozialer Inkompetenz und übergroßer Kenntnis der gesellschaftlichen Codes und Maskeraden. Sie erscheint als Signum der Authentizität und Ehrlichkeit, als eine Eigenschaft, die mit dem tief aus dem Innersten entspringenden «Seelenwort» auf einer Stufe steht. Tatsächlich galt die Schüchternheit, wie wir sehen werden, gerade im Zeitalter des Sturm und Drang immer wieder als Anzeichen der Innerlichkeit, der Echtheit und der charakterlichen Tiefe.
    Allerdings, und dies ist bedeutsam, ist das ideale Wesen, dem hier von Boie ein ach-so-schöner schüchterner Blick angedichtet wird, eine Frau: Da der Begriff der Schüchternheit stets die Abweichung von einer gesellschaftlichen Norm bezeichnet (wer schüchtern ist, verhält sich − oder hält sich für − sozial inkompetenter als der Durchschnitt), ist er auch mehr oder weniger klar gegendert . Nur wer eine Erwartungshaltung nicht erfüllt, wird als defizitär wahrgenommen; nur jemand, von dem man ein offensives, selbstbewusstes Auftreten erwartet, kann auch im negativen Sinn als schüchtern gelten. In einer patriarchal geprägten Gesellschaft, in der, gerade was Geschlechterbeziehungen anbelangt, dem Mann eine aktive Rolle zugesprochen wird, während die Frau das passive Objekt maskuliner Begierde darstellen soll, ist Schüchternheit daher vor allem ein männliches Problem.
    Während der Goethesche Hermann sich nach dem Willen seines Vaters ruhig etwas selbstbewusster unter das paarungswillige Jungvolk mischen könnte, um eine Braut zu finden, steht die Schüchternheit dem geschlechtsreifen Weibchen aus Boies «Schäferlehren» allerbestens zu Gesicht. Der Mann darf, ja muss diesem traditionellen Rollenverständnis zufolge die Frau ansprechen, aufreißen, erobern − die Frau hingegen muss sich nur schüchtern zurücklehnen und umgarnen lassen. Bloß allzu schüchtern, Boie nennt es «spröde», darf sie eben auch nicht sein: Sonst würde sie dem (insgeheim vielleicht doch nicht ganz so selbstbewussten) Mann seine Avancen vermutlich allzu schwermachen.
    Angesichts dieser ungleich verteilten Geschlechterrollen kann es nicht überraschen, dass sich die ersten

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