Schuechtern
des Wortes nahe, beginnt auch die Geschichte der Schüchternheit. Schüchternheit wäre mithin, zumindest in der jüdisch-christlich geprägten Welt, eine anthropologische Konstante.
Die Synonym-Funktion meines Computerprogramms empfiehlt, wenn ich das Wort ‹Schüchternheit› eingebe, die Ausdrücke ‹Scheu›, ‹Bammel›, ‹Bammels›, ‹Hemmung›, ‹Befangenheit›, ‹Scham›, ‹Bescheidenheit› und ‹Feigheit› als mögliche Alternativen − eine Vielzahl von Begriffen, die teils juristisch-wertneutral anmuten (Befangenheit), teils positiv besetzt sind (Bescheidenheit), in der Mehrzahl aber klar negativ konnotiert sind (Bammel, Hemmung, Feigheit). Offenbar hat der Begriff Schüchternheit einen ganzen Schwarm sinnverwandter Wörter in seinem Orbit, die ihn nicht nur mehr oder weniger eng umkreisen, sondern die auch semantisch miteinander kollidieren.
Zum Zweiten äußert sich Schüchternheit, ganz gleich ob sie nun positiv oder negativ besetzt ist, nicht in allen Situationen gleichermaßen: Der Angstforscher Borwin Bandelow von der Universität Göttingen definiert sie als «unbegründete oder übertriebene Angst vor Begegnungen mit anderen Menschen»; der amerikanische Psychologe Philip G. Zimbardo, der Begründer der sogenannten Shyness Clinic an der Universität von Stanford, präzisiert sie als «Angst vor Menschen, die aus irgendwelchen Gründen als emotionale Bedrohung empfunden werden: Fremde, weil man sie nicht kennt und nicht einschätzen kann; Autoritätspersonen, weil sie Macht ausüben; Angehörige des anderen Geschlechts, weil man mit ihnen intime Begegnungen haben könnte». Eine attraktive weibliche Vorgesetzte, die neu in die Firma kommt, dürfte demzufolge für einen schüchternen heterosexuellen Mann das größte anzunehmende Horrorszenario darstellen.
Da Freunde nun per Definition keine Fremden sind, da sie idealerweise keine Macht über ihre Freunde ausüben, und da die Möglich- oder Unmöglichkeit einer sexuellen Beziehung sich in der Regel in der Frühphase einer Freundschaft ausgemendelt hat, ist es tatsächlich gut möglich, dass manche meiner Freunde mich nie als schüchternen Menschen erlebt haben. Zumal ich vorwiegend Menschen zu meinem Freundeskreis zähle, die ebenfalls eher zurückhaltend veranlagt sind und bei denen die Gefahr, dass sie mich zum Tanzen auf einem Biertisch, zum Anquatschen einer wildfremden Frau oder zum öffentlichen Karaokesingen überreden wollen, sowieso gering ist. Wenn ich mich wider Erwarten doch auf einer Karaokebühne wiederfinde, was selten genug geschieht, entscheide ich mich natürlich immer für britischen Shoegazer-Pop, bei dem man schon des Namens wegen den Blick auf die eigenen Fußspitzen gerichtet halten muss.
Mit anderen Worten und auch wenn es paradox klingen mag: Schüchternheit ist zwar eine durchaus hartnäckige Charaktereigenschaft, die sich, anders als die vorübergehende Verlegenheit, nicht so einfach überspielen oder abschütteln lässt − sie zeigt sich aber nicht immer. Wie die von ihr betroffenen Menschen hält sich die Schüchternheit gerne bedeckt. Auch die Schüchternheit ist schüchtern.
Zum Dritten und Letzten handelt es sich, das dürfte aus dem Vorangegangenen deutlich geworden sein, bei der Schüchternheit um eine äußerst subjektive Kategorie. Psychologisch gesprochen: Schüchternheit hat nicht nur eine somatische und eine behaviorale, sondern auch eine kognitive Dimension; sie äußert sich also nicht nur in objektiven körperlichen Symptomen oder bestimmten Verhaltensweisen, sondern ist auch ein Produkt der je individuellen Wahrnehmung.
Wer sich selbst als schüchtern erlebt, dürfte kaum von seinen Freunden, oder auch von seinem Therapeuten, durch Argumente davon zu überzeugen sein, dass er in Wirklichkeit über ein gewaltiges Selbstbewusstsein verfügt. Wer umgekehrt von seiner Umgebung als schüchtern oder verklemmt eingestuft wird − eine gängige Kurzformel unter prä-, inter- und postpubertären Männern dafür lautet, dieser oder jener sei ‹schwul› −, der wird meist große Mühe haben, eine solche Zuschreibung durch Worte oder Taten zu widerlegen; zumal die Bescheinigung, man sei schüchtern, verklemmt, schwul zumindest in einem bestimmten Alter nicht gerade zu Höhenflügen in selbstbewusstem Verhalten anregt.
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen von mir mit vierzehn Jahren unternommenen, leider wenig erfolgreichen Versuch, meine männlichen Mitkonfirmanden von der tief in
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