Schuechtern
mir schlummernden Locker- und Verwegenheit zu überzeugen, indem ich während einer Wochenendfreizeit versuchte, mit einer Leiter den Balkon der Mädchenetage zu erklimmen. Kaum dass ich die oberste Sprosse erreicht hatte, zogen die anderen Jungs die Leiter unter mir weg, so dass ich auf äußerst unmännliche Weise am Rand des Geländers zu Baumeln kam und nur durch mitleidig zupackende Mädchenhände vor dem Sturz in die Tiefe bewahrt werden konnte. Ich kann nicht behaupten, dass diese Vorführung mich zu weiteren Verwegenheitsbeweisen inspiriert oder die vorherrschende Meinung über meine sozialen Defizite sonderlich verbessert hätte. Den Spitznamen ‹Schildkröte›, der mir aufgrund meines zurückgezogenen Wesens zu Beginn des Konfirmandenunterrichts zugeteilt worden war, wurde ich jedenfalls, soweit ich mich erinnere, bis zur Konfirmation nicht mehr los.
Auch wenn der Begriff der Schüchternheit also an den Rändern reichlich ausgefranst ist, verfügt er doch über einen stabilen semantischen Kern: Wer schüchtern ist, hat vor allem Angst. Angst vor der Aggression seiner Mitmenschen; Angst, dass er sich in einer sozialen Rolle wiederfinden könnte, die er nicht auszufüllen vermag; Angst, dass er der plötzlichen Missbilligung, dem unverständigen Kopfschütteln, dem spöttischen Gelächter einer ihm kritisch gesinnten Umwelt ausgesetzt sein könnte, die, im Gegensatz zum Schüchternen, mit den in der jeweiligen Situation gefragten sozialen Codes innig vertraut ist. Zumindest ist die Neigung, sich vor solchen Situationen zu fürchten, bei Schüchternen besonders ausgeprägt: Schüchternheit, schrieb schon Immanuel Kant, ist «eine habituelle Beschaffenheit, leicht in Furcht zu geraten».
Diese Furcht bedarf dabei nicht unbedingt eines konkreten Anlasses, sie benötigt, mit dem Philosophen Martin Heidegger gesprochen, kein «Wovor», sondern ist eher eine Disposition − das, was Heidegger als das «Fürchten selbst» bezeichnet: «Nicht wird etwa zunächst ein zukünftiges Übel […] festgestellt und dann gefürchtet. […] Das Fürchten […] hat die Welt schon daraufhin erschlossen, daß aus ihr so etwas wie Furchtbares nahen kann.» In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Schüchternheit auch vom Gefühl der Peinlichkeit oder der Scham, etwas Falsches getan zu haben: Während Letztere in der Regel eine zeitlich begrenzte Emotion darstellt, die schnell wieder verfliegen kann, handelt es sich bei der Schüchternheit um einen dauerhaften Wesenszug, um eine anhaltende Furcht vor Beschämung. Das Wort ‹vor› ist dabei durchaus im temporalen Sinn zu verstehen: Während das Gefühl des Sich-Schämens stets als Reaktion auf eine vorangegangene Situation folgt, geht die Schüchternheit dieser Situation in der Regel voraus. Sie ist also gewissermaßen proaktiv oder besser ‹propassiv›, da sie den Betroffenen gerade von Handlungen abhält, die zur Beschämung führen könnten. Und: Während das akute Scham- oder Peinlichkeitsgefühl sich vorwiegend auf die Tat, den Fauxpas, den begangenen Regelverstoß bezieht, betrifft die Schüchternheit die ganze Person. Wer sich schämt, etwas Unpassendes oder Verwerfliches getan zu haben, kann seine Tat wenn nicht ungeschehen, so doch immerhin ‹wiedergutmachen› − der Schüchterne hingegen müsste sein gesamtes Wesen ändern, um seine Schüchternheit loszuwerden. Er fühlt sich von Grund auf defizitär und verletzlich.
Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass unser Ausdruck ‹Schüchternheit› sprachgeschichtlich eng mit den Begriffen der ‹Scheu› und des ‹Scheuchens› verwandt ist: Ursprünglich bezeichnete das Wort die Furcht, Beutetiere vor Gefahr oder der latenten Bedrohung durch eine ihnen feindselig gesonnene Umwelt empfinden. Wer schüchtern ist, fühlt sich dieser Bedeutung zufolge wie ein aufgescheuchtes Reh auf einer Waldlichtung: exponiert, beobachtet, verletzlich. Er steckt voller Furcht, dass hinter jedem Baum ein potentieller Angreifer lauern könnte, und versucht daher, sich nach Möglichkeit ins Unterholz zurückzuziehen, wo er den Blicken seiner Fressfeinde entzogen ist. Das vielleicht einprägsamste literarische Beispiel für einen solchen chronisch Furchtsamen ist der halb tierische, halb menschliche Protagonist aus Franz Kafkas Erzählung «Der Bau», der sich nach Maulwurfsart in einem unterirdischen Höhlensystem verscharrt hat und dort, fernab von anderen Wesen, mit nichts als der beständigen Sorge um seine Bloßstellung
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