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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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umgedreht. Ich sehe fünf alte Frauen und einen kahlköpfigen Hundebesitzer, der von seinem Mischling in Richtung Park gezogen wird. Ich frage mich, ob einer von denen weiß, dass hinter das Haltbarkeitsdatum auf einer Fischstäbchenpackung ein Buchstabe gedruckt wird und dass dieser Buchstabe für eine Fischart steht. Es gibt Alaska-Seelachs, Seelachs, Seehecht und blauen Seehecht. Ich jongliere die Kirschkerne auf der Zunge. Den Weg zurück nehme ich im Laufschritt, die Einkäufe wippen gegen meinen Rücken. Ich spucke einen Kirschkern gegen jedes Stoppschild, an dem ich vorbeikomme. Mit Kirschen im Mund sollst du nicht rennen, sagte meine Großmutter immer. Ihr Garten ist voller Obstbäume und Stachelbeerbüsche. Wie viel Zeit ich dort verbrachte.
    Zurück in der Goldlaube, koche ich zuerst Kaffee. Dann werfe ich mich zu dir aufs Bett. Deine Haarspitzen berühren meine Finger wie feuchte schwarze Federn. Der Kaffeedampf steigt von einem Tablett über die Bettkante in unsere Nasen.
    Ich liege auf dem Bauch. Mein Herz schlägt in die Kissen hinein. So lag ich manchmal als Kind, um das Hämmern besser zu spüren, im Gras, nach einem Wettrennen durch den Garten oder auf einem Handtuch im Freibad. Ich hatte schon damals den Verdacht, dass mein Herz ausbrechen würde, wenn es könnte, und in der Wildnis leben, wenn es eine fände. Moritz fragte ich einmal, ob mein eigenes Herz mir die Rippen brechen könne. Von innen, wenn es zu arg schlägt, fragte ich ihn. Er überlegte und meinte dann, dass dafür schon ein sehr großes Herz nötig wäre. Kindern könne das also nicht passieren. Ich sehe sein Gesicht vor mir, die Erinnerung ist ganz klar. Das Bild seiner lebhaften Augen und der rissigen Februarlippen stillt ein wenig das Fernweh, das seit heute Morgen in der Luft hängt. Ich fische eine Tasse vom Tablett.
    Du windest dich unter der Bettdecke. Kommst näher. Wir trinken Kaffee, Mund zu Mund, der schwarze Aufguss fließt über meine Lippen zwischen deine. Ich erzähle dir vom Kirschenklau.
    »Und du? Klaust du manchmal?«, frage ich und lecke mir die Lippen.
    »Nein. Das weißt du doch. Hast du schon mal gefragt.«
    Dein Finger balanciert ein wenig auf dem Tassenrand, bevor der Kaffee von meiner Hand in deine wandert.
    »Na gut, letzten Winter einmal«, sagst du und nippst, »da wollte ich wissen, wie sich so eine kleine Elster im Diebesrausch fühlt.«
    »Ich bin nicht kleptomanisch oder so. Ich klaue nur Teelöffel und Kleinkram. Nicht oft.«
    »Und Kirschen«, erinnerst du.
    Du stellst die Tasse zurück und legst dich in die Kissen.
    »Mach einfach keinen Blödsinn.«
    »Ich bin nie erwischt worden«, sage ich.
    »Das meine ich nicht.«
    Ich lege mich neben dich, frage wohlweislich nicht nach, was du meinst. Auf eine Moralpredigt habe ich keine Lust. Ich grabe meinen Kopf ins Kissen. Jetzt liegen wir wie die Figuren auf den Grabplatten der Könige, Hände auf dem Bauch gefaltet, parallel.
    »Und was hast du geklaut?«, frage ich.
    »Ein Telefonkabel.«
    »Hm …«
    Die Dinge frieren leise fest. Die Kissen, die Fältchen in der Bettwäsche, sogar die Luft. Es wird still. Nichts rührt sich mehr. Als hätte alles seinen Platz gefunden, als könne sich nie wieder etwas bewegen. Wenn ich jetzt einen Kirschkern spucken würde, bliebe er mitten in der Luft stehen, dessen bin ich mir sicher. Ich lausche angespannt auf irgendwelche Geräusche von draußen oder unten. Ich höre nichts. Stattdessen beginnen Schafe in meinem Kopf zu blöken, sie marschieren aus dem Nichts herauf, fluten mein Sichtfeld, Schafe bis zum Horizont. Auf dem Rücken zweier Schafe sitzen die zwei kleinen Mädchen aus der Stadtbahn und winken. Ich hebe die Hand und sehe, dass es eine schmutzige Kinderhand ist. Ich fasse in meine Hosentasche, aber statt einer Glasscherbe finde ich ein Telefonkabel. Die Mädchen reiten auf ihren Schafen davon.
    Meine Augen springen auf. Wir sind noch immer in Grabplattenhaltung. Ich will die Welt wieder anstoßen und schiebe meine Hand auf deinen Bauch. Du atmest ein und mit einem angenehm verzerrten Seufzen wieder aus.
    »Hast du mich vermisst?«, fragst du.
    Ich lege meinen Kopf auf deine Brust und schüttle ihn. Ein Kissen rutscht zu Boden, es macht ein seidiges Fallgeräusch.
    »Ich vermisse dich jetzt«, sage ich.

Schneetreiben
    Du wärst ein Fremder mit zerrissenem Hemd. Ich wäre eine Dorfschneiderin. Ich würde die Nadel zwischen die Lippen stecken, während ich ein Stück Faden abschneide. Bevor ich dir das

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