Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
Vom Netzwerk:
halte ich Lutz für eine Art Torwächter. Ich bin mir sicher, dass niemand unbemerkt an seiner Tür vorbeikommt. Auch du nicht.

Myrte
    Im Spiegel flattern meine Wimpern. Ich wache nur langsam auf. Jeder Schlaf ist eine Reise, und ich frage mich, wo ich diesmal gelandet bin. Ich sehe blass aus.
    Sonnenlicht filtert durch Basilikumblätter. Ich zerkaue ein Büschel davon zu einem minzigen Brei. Mein Blick hängt an der Küchenuhr, wie üblich, ohne die Zeit zu lesen. Ein Fischfraktal von Escher bildet das Zifferblatt. Ich staune über die Arglosigkeit der flachen Fische. Sie stecken ihre bunten Schnäuzchen zusammen und machen große Augen. Irgendwann deute ich die Zeigerposition der Uhr. Ich sollte gehen.
    Borg kommt herein und kratzt sich die Brust.
    »Ist der Typ immer noch oben?«, fragt er.
    Ich nehme eine Milchtüte aus dem Kühlschrank.
    »Der Typ heißt Fender«, sage ich und gebe Borg einen Knuff in die Rippen.
    Die Fische blinzeln mir zu. Sie wackeln mit den blauen und gelben Schwänzen.
    »Na, wenigstens weißt du seinen Namen noch«, sagt Borg, grinst und trottet ins Wohnzimmer.
    Auf dem Flur wippt mir Matti entgegen, das übliche Lächeln zwischen die Ohren gespannt, und nickt mir bedeutsam zu. Diese Männer sind Hunde, denke ich, die riechen, wenn ich Sex hatte. Auf der Treppe wird mir klar, dass du der erste Mann bist, der eine zweite Saison mit mir verbringt. Die Hunde erinnern sich an dich.
    Oben angekommen, schlucke ich den Minzebrei und trinke einen Mundvoll Milch. Mein Zimmer riecht nach Holz und den Spuren von Mandelseife. Ich gieße den Myrtenbusch auf meinem Schreibtisch und sprühe mir selbst mit dem Wasserzerstäuber einen kühlen Nebel ins Gesicht. Du räkelst dich im Bett.
    »Ich muss gehen«, sage ich, »da steht Milch, wenn du magst.«
    »Warte. Ich muss dir was erzählen«, sagst du.
    Ich sehe dich fragend an.
    »Du hast mich heute Nacht getreten und geschlagen.«
    Lunatismus, sagt das Lexikon in meinem Kopf, Somnambulie, Mondsucht. Jeder Schlaf ist eine Reise, denke ich, mit einer Menge blinder Passagiere. Ich setze mich auf die Bettkante. Du demonstrierst mir die Art der Schläge. Ich erinnere mich an nichts.
    »Hab ich was gesagt?«
    »Nein. Hast dich nur aufgesetzt und auf mich eingeschlagen. Das musst du doch wissen?«
    Ich schüttle den Kopf. Von den Tagen, an denen ich mit schmutzigen Füßen aufwache, erzähle ich dir nicht. An denen ich weiß, ich muss im Garten gewesen sein oder draußen auf der Straße. Auch die Geschichte des kleinen Mädchens, das morgens mit Schrammen im Gesicht erwachte und sich schämte, oder mit Schneckenspuren im Haar, erzähle ich dir nicht.
    »Keine schlechten Träume, irgendwas?«
    Als es zum ersten Mal passierte, schimpften meine Eltern mich aus. Beim zweiten Mal sagten sie nichts. Beim dritten Mal gingen wir zum Arzt. Keine Träume, keine Erinnerung, Amnesie gehört zur Symptomatik, sagte der und nickte beflissen. Sollten die nächtlichen Ausflüge nicht abklingen, machen wir ein paar Tests. Als ich merke, dass du noch auf eine Antwort wartest, schüttle ich wieder den Kopf. Du legst deinen schief. Bekommst den Blick, den du immer bekommst, bevor du mich zu necken beginnst, Seelenruhe mit einem Schuss Misstrauen gemischt. Ein Büffel, der sich fragt, was eine kleine Touristin wie ich in der Prärie verloren hat.
    »Das ist doch nur ein Trick, damit du deine Aggressionen an mir auslassen kannst«, sagst du.
    »Glaub mir, ich würde nicht warten, bis du schläfst.«
    Der Büffel lässt sich willig den Bart kraulen. Ich pirsche mich heran, verteile ein paar halbharte Schläge auf deinem Brustkorb. Dann werden sie stärker. Als es dir zu viel wird, fängst du meine Fäuste im Flug auf. Drückst meine Handgelenke auf die Matratze. Plötzlich ist Wachsamkeit in deinem Blick. Ich winde mich aus deinem Griff und nehme meine Tasche.
    »Warte«, sagst du.
    Du stehst auf, und dein Blick bittet um Erlaubnis, zuerst. Dann umarmst du mich. Dein Ziegenbart sticht in meine Haut. Durchs Fenster sehe ich, dass zwischen Himmel und Horizont eine haarfeine, blutige Linie brennt. Die starre ich an, weil du nicht loslässt.
    »Bis irgendwann«, sage ich schließlich.
    Ich laufe hinunter. Die Haustür springt auf, meine Schuhe fliegen die Steintreppen hinunter, übers Pflaster weg. Ich mag das Geräusch meiner Schuhe. Sie klingen wie Kinderschuhe. Erst als ich höre, wie die Tür ins Schloss fällt, blicke ich zurück. Im wilden Wein glitzern noch Tropfen. Verschlafene

Weitere Kostenlose Bücher