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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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Bienen surren zwischen den Blättern. Oben, wo der zweite in den dritten Stock übergeht, tasten die Ranken nach einem Balkengesims. Was dort beginnt, ist mein Zimmer. All die Träume, die ich heute Nacht nicht träumte, liegen noch dort oben bei dir.
    In meinem Zimmer hat der Weltuntergang bereits begonnen. Mein unverwandtes Gefühl, dass die Welt ständig im Zusammenbrechen begriffen ist, zieht sich als heimliches Muster durch meine fünfundfünfzig Quadratmeter. Ich habe viel Platz, wenig Ordnung und keine Uhr. Ich kritzle auf alles, was nicht anderweitig gebraucht wird, auf alte Briefkuverts, auf Pappbecher, auf eine Zigarrenkiste und den Schreibtisch selbst. Ein Knoten aus alten Gitarrensaiten windet sich um ein Stuhlbein und wächst. Meine Teelöffelsammlung klirrt neben dem Bett. Von der Decke hängen ein paar Federn und bewegen sich mit der Luft. Zwölf Kissen, die sich auf meinem Bett türmen, verstreuen sich jede Nacht rund um die Bettkanten.
    Ich weiß, was du tun wirst. Du trinkst die Milch, wankst in die Küche und stellst gedankenlos die leere Packung in den Kühlschrank. Du gehst in den Flur und starrst einige Sekunden lang deine Schuhe an. Du beschließt, nicht nach Hause zu gehen, und steigst die Treppen wieder hinauf. Ich kann deine Schritte in meinem Zimmer fühlen, während ich durch die Straßen gehe, als wäre das Zimmer ein entfernter Teil meines Körpers.
    Du legst dich ins Bett, berührst das Stück Chinaseide, das am Bettpfosten hängt, tastest nach den winzigen Blüten darin. Das letzte Kissen fällt herunter. In etwa einer Stunde wird ein Lichtstrahl hereinfallen und ein flirrendes Band in der Luft hinterlassen, dessen Ende auf deinen Hüften, in der Mitte meines Bettes, liegen wird. Du wirst es nicht spüren, nur im Schlaf leise murmeln.
    Ich nehme einen Kaugummi aus der Tasche und springe über zwei große Wasserlachen. In ihnen spiegeln sich Wolken.
    Ist das meine Geschichte, denke ich, eine Pfütze im Sonnenlicht. Wenn ich hineinschaue, glänzen die Kieselsteine golden und grün. Aber mein Auge kann umspringen, und plötzlich fährt der ganze Himmel durch den Spiegel des Wassers. Wie im Film, wenn die Kamera von einem nahen Objekt in die Tiefe wechselt. In die Tiefe der Pfütze, die eigentlich die Höhe des Himmels ist. Und nach ein paar Stunden Sonne verschwindet die Pfütze, einfach so.

Götterspeise
    Im gefliesten Bauch der Stadt riecht es nach Gummi und Kaffee. Beim Umsteigen lasse ich einen Automaten seine Pappbechermelange ausspucken. Der Geschmack ist verkorkst. Er erinnert mich an die Schieflage der Welt, das Gefühl, als könne jeder Schritt ein Danebentreten sein. Diesen Geschmack zu mögen heißt, der Welt noch eine Weile standzuhalten. Das lernte ich da, wo ich jetzt hinfahre.
    Wenn die Bahn sich ruckelnd in die Kurve legt, halte ich meinen heißen Becher fest. Ich trinke in sehr kleinen Schlucken. Kaffeegeschmack wird mir immer ungewohnt bleiben, und dafür mag ich ihn. Die Stadtbahn schießt ins Freie. Ihre Scheiben sind blau getönt. Blaue Reklame zieht vorbei, blaue Männer in blauen Mänteln, ein blauer Pudel. Von hinten lese ich in fremden Büchern mit, und mir wird schlecht dabei.
    Ich steige aus, über das Haltestellendach wächst Efeu, der Becher ist leer und mein Mund bitter. Bei meiner Französischlehrerin werde ich Wasser mit Waldmeistersirup trinken, wie jedes Mal. Sie mag Waldmeistersirup und alles Grüne.
    An der Oper habe sie Smaragde getragen, sagt sie immer. Sie habe als Sängerin gearbeitet, in Paris. Dabei fasst sie in ihr graues Haar, suchend, ordnend, befestigt manchmal eine Haarnadel neu. Jetzt sei ihre Stimme sehr viel kleiner geworden. Alles, was sie noch tut, ist Französisch sprechen, mit mir und ein paar anderen Schülern. Als ich ankomme, stehen Margeriten auf dem Tisch. Sie erwartet mich bereits. Ich bekomme Grünes zu trinken, und anstatt uns an den Tisch zu setzen, gehen wir spazieren.
    Die Psychiatrie hat weitläufige Gärten, Pflaumenbäume, Rosenbeete. Die alte Französin verbrachte knappe drei Jahre hier. Nachdem sie entlassen worden war, vermisste sie die Gärten, die Therapiestunden, die Gesellschaft. Jedes Wochenende fuhr sie hierher und verbrachte einen Nachmittag zwischen den Beerenhecken und Obstbäumen. Ein halbes Jahr später wurde eine Wohnung in der Nachbarschaft frei. Die nahm die alte Dame.
    Nichts als ein niedriger Flechtzaun trennt ihren Garten vom Psychiatriegelände. Den Zaun habe sie selbst gebaut, sagt meine

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