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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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entstehen. Sie bedecken glitzernd den Asphalt, ein Feld falscher Edelsteine.
    Wir gelangen auf die sechsspurige Brücke über dem Bahnhof. Ein Schnellzug rollt herein. Wir sehen ihn langsam in die Dunkelheit zwischen Gleis zehn und elf fräsen. Er passt perfekt. Wir hören Metall. Wir hören Lautsprecher. Wir überqueren die sechs Spuren und gehen weiter, die Hände auf nassen Geländern schleifend.
    »Woher kennst du diesen Peer?«, frage ich.
    »Ich kenne ihn nicht«, sagst du.
    Ein Tropfen fällt von irgendwo aus großer Höhe auf meine Schulter. Ich muss lachen. Ich beiße mir in den Handrücken. Plötzlich lachst du auch. Deine Stimme klingt wie ein unterirdischer Fluss. Ich möchte darin baden. Auf meiner Hand bleibt minutenlang der kleine Biss zu sehen.
    Links taucht ein Rohbau auf, Fensterlöcher, groß und dunkel. Vom Regen sind große Lachen auf allen Böden des Bauskeletts, das Dach ist noch offen, überall tropft es. Das Geräusch des rieselnden Wassers hallt mehrfach und überdeutlich an den kahlen Wänden wider. Ich gehe hin und höre zu. Du folgst mir, ohne zu fragen. Ich betrete die Baustelle, gehe durch zukünftige Türen. Mit jedem Schritt wird das Plätschern lauter und hallender. Es klingt wie eine minimalistische Triosonate, ein Spiel zwischen Souterrain, Hochparterre und Obergeschoss. Das Platschen im Keller hallt am längsten und tiefsten. Ich mache ein Geräusch zwischen Murmeln und Singen. Meine Stimme verdoppelt sich. Du schweigst und beobachtest.
    Ich raune den Anfang eines Liedes. The creeps are out and dancing. Der Text fließt vor mir auf den Boden. Ich singe nicht wie auf der Bühne, sondern hauchiger, tonloser, wie in einer Muschel, die auf keinen Fall zerbrechen soll. Inmitten der Tropfensonate echot mein Lied, anders, ganz anders, als ich es kenne. Du bist das stillste Publikum, das ich je hatte. Deine Rabenaugen halten mich fest.
    Wir durchqueren den Rohbau in Richtung Stadtpark und gehen zum See. Das Wasser liegt bewegungslos da. Ich kauere mich ans Ufer. Du sprichst über den letzten Winter, über aktuelle Filme und deine neue Wohnung. Ich werfe manchmal Fragen dazwischen und Steine ins Wasser. Du sagst, du seist mir in den letzten Wochen oft begegnet, irgendwo auf der Straße. Ich erinnere mich an nichts.
    Einer meiner Steine schlägt etwas abseits ins Wasser und weckt ein Entenpaar. Eine zierliche Ente schwimmt verträumt in die Mitte des Sees. Es ist eine japanische Ente mit großen Knopfaugen. Das zweite Tier, ein schwarzer Erpel, schifft direkt auf uns zu. Er bellt uns mit seiner Entenstimme an.
    Ich erzähle dir die Geschichte von dem Glassplitter und dem Tintenfass. Ich spreche nicht von Moritz, nicht von meinem Zwillingsbruder, sondern von einem Jungen, einem Glassplitter, einem Tintenfass. Du fragst, ob ich eitel sei. Ich sage ja. Du ziehst ein Klappmesser aus deiner Tasche und fragst, ob ich heute immer noch weglaufen würde. Ich stehe auf und sage ja, natürlich. Du lachst wie ein Mafioso, der sein Opfer in die Enge getrieben hat. Du hast ein schönes Lachen. Es klingt, als hättest du es geübt.
    Auf dem Heimweg hältst du mein Gesicht unter eine Straßenlaterne. Ich solle die Augen schließen. Du berührst mit dem Finger mein Augenlid, den verwischten Kajalstrich einer durchtanzten Nacht. Ich kann die Wärme deiner Haut im Gesicht spüren.
    »Wie der Hof um den Mond bei nebligem Himmel«, sagst du.
    »Ich wische ihn selten ab«, sage ich.
    Ich schließe die Tür auf. Führe dich über die dunklen Treppen nach oben. Auf meinem Bett liegen die Gitarren wie zwei Schlafende. Ich stelle sie ans andere Ende des Raums und knipse eine Lichterkette an. Ich setze mich aufs Bett. Du bleibst stehen und siehst dich minutenlang um. Dein Blick schweift, deine dunklen Haarspitzen kriechen mit der Bewegung des Kopfes über deinen Nacken.
    Ich bin nicht müde. Im Gegenteil. Ich bin so wach, dass es wehtut. Am liebsten will ich schreien oder mit all meiner Kraft in deinen Nacken beißen. Ich will weinen, will etwas schaffen oder zerstören, will Welten kollidieren lassen, dich und mich. Aber ich bleibe einfach sitzen. Ich zerbreche nicht die Stifte auf meinem Tisch, ich reiße keine Tapeten von den Wänden, ich zerfleische nicht deinen Nacken. Ich sprenge nicht die Saiten von meinen Gitarren, zerschlage keine Scheiben, blute nicht. Ich küsse dich nicht.
    Wir verbringen die Nacht auf der Dachterrasse und hören dem Viertel beim Schlafen zu. Bis auf einen murmelnden Fernseher ist es sehr

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