Schuhwechsel
von uns allen ein Foto zu machen. Wir verabschieden uns wie alte Freunde und die ganz alte Senora küsst mir die Hand und bekreuzigt sich.
Ich umarme sie ebenfalls und küsse ihr die Wangen. So viel Ehrerbietung treibt mir fast Tränen in die Augen. Ach, ich heule ja eh immer viel zu schnell. Das ist meistens peinlich und unangebracht.
An der Rezeption des Herbergsgroßlagers klebt ein Zettel: „bin in 30 Minuten zurück“.
Bis wir Pilger zwei Stunden später in die Herbergen hinein können, kenne ich die Pilger- und Lebensgeschichten von allen herumstehenden Pilgern, die auf Einlass warten.
Der junge Mann, der vorhin das Foto von den Portugiesen und mir geschossen hat, ist in Paris losgelaufen. Vor 4 Monaten. Er trägt einen ähnlichen Pilgerstab in der Hand, wie ich ihn im Hotel vergessen habe. Sein Großvater hat ihm diesen Stab geschnitzt und mit auf den Weg gegeben. Der junge Mann ist ein Pilger und auch ein Magier. Er ist fast ohne Geld losgegangen und hat sich sein Essen und seine Übernachtungen mit seinen Zaubervorstellungen verdient. Das ging relativ einfach, denn die Menschen, bei denen er übernachten konnte, kannten andere, die am nächsten Etappenziel wohnten und die sich auf ihn und seine Show freuten. Diese Menschen luden Freunde ein, die zuerst feudal aßen und dann seiner Zauberei zuschauten. So hatte er jeden Abend ein warmes Bett, sehr gutes Essen und nette Gesellschaft. Von Paris aus gibt es ja so gut wie keine Herbergen oder Refugios. Die fangen ja eigentlich erst in Spanien so richtig an. Er sagt, am Anfang seiner Pilgerreise habe er sich wie ein echter Pilger gefühlt.
Später auf dem Camino sei er gepilgert, wie alle anderen auch, erzählt er, aber sein Ruf als Zauberer eilte ihm stets voraus, egal wie schnell er ging.
Er hatte Politik studiert, einen Monat lang gearbeitet und dann festgestellt, dass ihn das überhaupt nicht interessiere. Er hat gekündigt und ist auf den Jakobsweg. Hier wurde ihm klar, was er wirklich wollte: Er möchte zum Fernsehen und dort als Moderator oder Nachrichtensprecher arbeiten. Das passt zu ihm, denke ich spontan. Er ist ein smarter und sehr gut aussehender junger Mann mit einer sagenhaft schönen Stimme. Das könnte klappen.
Ich nutze die Gelegenheit und frage in die Runde, wie viel jeder abgenommen hat. Der junge Franzose spricht von 10 kg und alle anderen haben das Gefühl, um die 5 kg abgenommen zu haben. Das erfüllt mich mit Hoffnung. Zu gerne würde ich etwas von meiner hartnäckigen Speckmasse verloren haben.
Dann kommt der Portier und verteilt die Betten.
Satt und zufrieden wie ich nun gerade bin, lege ich mich in mein Bett, bin faul und fühle mich fiebrig. In meinem 6-Bett-Zimmer liegen außer mir eine Belgierin, eine Slowakin und eine Österreicherin. Mit ihr komme ich ins Gespräch. Diese quirlige Mittfünfzigerin ist mit dem Jakobsweg zwei Wochen früher fertig als geplant und nun überlegt sie sich, was sie mit der übrigen Zeit anstellen soll. Ich frage sie erstaunt:
„Wie? Du kommst zwei Wochen früher in Santiago an, als du geplant hast? Wie viele Kilometer bist du dann jeden Tag gegangen?“
„So zwischen 30 und 40 Kilometer. An einem Tag bin ich sogar 55 km gelaufen. Da war das Wetter so schlecht und ich habe keine freie Herberge gefunden, da musste ich einfach weiter gehen.“
„Von wo aus bist du gestartet?“, möchte ich wissen
„Von St. Jean-Pied-de-Port. Mir ging es einfach nur gut auf dem Weg. Alles lief so tadellos, es gab keinen Grund, meine Tagestouren zu verkürzen.“
„Wie schwer ist dein Rucksack?“
„Der wiegt nur 6 kg, ist aber leider nicht ganz wasserdicht. Meine Regenjacke war leider auch nichts. Nach dem ersten Regentag sind die Schweißnähte aufgeplatzt und dann konnte ich sie wegwerfen. Eigentlich hätte ich die Jacke reklamieren sollen, aber man trägt ja nicht eine Regenjacke den ganzen Jakobsweg entlang, um sie hinterher zu reklamieren. Die ist eh´ hinüber. Aber ich werde in dem Geschäft vorbeigehen und denen das sagen. Vielleicht hilft es den nächsten Pilgern.“ Irgendwie fasziniert mich diese Frau. Sie ist so offenherzig und wahnsinnig dynamisch. Mal sehen, was sie zu erzählen hat.
„Wie lange hast du denn nun tatsächlich für den Jakobsweg gebraucht?“, frage ich.
„Dreieinhalb Wochen“, sagt sie.
„Dreieinhalb Wochen? Für die ganzen 850 km? Bist du den Weg gejoggt? Oder mit dem Bus gefahren?“
„Nein, nein, es lief alles wunderbar, wie ich schon sagte, das ist ja auch
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