Schuldig wer vergisst
fand, eine rote Serviette von einem Regal, um ihr Gesicht hineinzudrücken.
»Ist was mit Joe?«, fragte Mark beharrlich.
»Joe!« Der Name kam unter gequältem Schluchzen heraus. Mark preschte einfach weiter voran. Von allen Möglichkeiten
wäre er mit dieser am besten zurechtgekommen: »Ist er … krank?«
Seine Schwester schüttelte den Kopf, zuerst langsam, dann immer heftiger.
»Dann …«
Auch wenn ihre Worte nur gedämpft durch die Serviette kamen, verstand Mark sie nur zu gut. »Er hat eine Affäre.«
Yolanda zog einen Stuhl an Nevilles Schreibtisch heran. Sie setzte sich hin, schlug die Beine übereinander, stellte sie dann wieder nebeneinander und räusperte sich.
»Ja?«, sagte Neville so geduldig, wie er konnte.
Ihm war überhaupt nicht nach Geduld zumute. Evans hatte ihn in sein riesiges Eckbüro zitiert und ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er von den Fortschritten der Ermittlungen nicht beeindruckt war und schon gar nicht davon, wie Lilith Noone sie alle genüsslich zum Frühstück verspeist hatte. Immer die alte Leier: Wieso tut die Polizei nicht ihre Pflicht? Das letzte Mal hatte sie in dieses Horn geblasen, als es um Rassismus ging; jetzt war es das Rowdytum. So viel musste Neville ihr lassen – sie wusste ihre Klagelieder genau an die Stimmungen der öffentlichen Meinung anzupassen.
»Ich weiß nicht recht, wie ich es Ihnen sagen soll«, fing Yolanda an und fummelte an einem ihrer Zöpfe herum.
Nevilles Magen krampfte sich zusammen. »Was sagen?«
»Ich habe mich gefragt, ob wir bei diesem Fall vielleicht die ganze Zeit auf der falschen Fährte sind.«
Spätestens jetzt war ihm klar, dass er nicht hören wollte, was auch immer sie ihm zu sagen hatte. Das Problem war nur, dass er sie als Polizistin schätzte; er wusste, dass sie weder dumm noch verstiegen war. »Ja?«, fragte er in nunmehr besorgtem Ton.
»Ich weiß, das klingt verrückt, aber hören Sie es sich zumindest an.«
Neville seufzte. »In Ordnung.«
»Ist es möglich, dass … nun ja, dass die Leiche im Kanal jemand anders war als Trevor Norton?«
Sein Kopf fuhr hoch. »Seine Frau hat ihn identifiziert«, sagte er spitz. »Sie waren dabei, schon vergessen?«
»Das ist es ja.«
Neville starrte sie an. »Vielleicht bin ich ein bisschen schwer von Begriff, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen.«
Sie wich seinem Blick aus. »Wenn Rachel Norton nun nicht die Wahrheit gesagt hätte? Wenn die Leiche gar nicht ihr Mann war, sondern jemand anders?«
»Weshalb zum Teufel sollte sie das tun?«
»Vielleicht, weil wir glauben sollen, er sei tot«, erklärte Yolanda. »Vielleicht musste er … verschwinden. Aus irgendeinem Grund.«
»Oh.« Neville schwieg einen Moment, während er im Kopf in einen anderen Gang wechselte. Wenn sie den Fall nun tatsächlich die ganze Zeit falsch angepackt hätten? Wäre schließlich nicht das erste Mal. »Ja …«, sagte er endlich. »Ja, ich sehe, worauf Sie hinauswollen. Aber wieso?«
»Angenommen, er hatte Schulden oder war sonst irgendwie in Schwierigkeiten«, gab sie zu bedenken. »Es wären alle möglichen Gründe denkbar, aus denen jemand verschwinden muss.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine, wie kommen Sie jetzt auf einmal darauf? Ist irgendwas vorgefallen? Ich meine, haben Sie einen Grund dafür, plötzlich anzunehmen, dass dieser Fall nicht so eindeutig ist, wie er scheint?«
»Ja, so ist es«, sagte Yolanda gedehnt. »Ich bin nicht übergeschnappt, Neville. Ich hab mir das nicht aus den Fingern gesogen.«
»Ich höre.«
»Es war etwas, das ich belauscht habe.«
Mit einem Schlag war Neville ganz da, und sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Während sie noch das Telefonat wiedergab, war er ihr gedanklich schon einige Schritte vorausgeeilt.
»›Wir müssen nur Geduld haben, weiter nichts.‹ Das hat sie gesagt«, endete Yolanda mit ihrem Bericht.
»Und Sie glauben, Trevor ist abgetaucht und wartet so lange, bis er und Rachel wieder zusammen sein können? Und sie macht bei alledem gemeinsame Sache mit ihm?«
»Wäre möglich«, sagte sie. »Würde zumindest zu dem passen, was sie gesagt hat.«
»Wirft aber auch ein paar andere Fragen auf«, betonte Neville.
»Ich weiß«, räumte sie ein. »Zum Beispiel, wessen Leiche sie dann identifiziert hat.«
Waren diese Zweifel erst mal auf dem Tisch, stach man in ein gewaltiges Wespennest. War es reiner Zufall, dass sie einen Toten aus dem Kanal gezogen hatten, der auf die
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