Schuldig wer vergisst
Beschreibung von Trevor Norton passte? Oder war es alles ein gewaltiges Täuschungsmanöver vonseiten Rachel Nortons gewesen und verbarg sich dahinter eine weitaus düsterere und komplexere Tat? Hatte in Wahrheit Trevor einen unschuldigen Jogger ermordet – einen, der ihm ein wenig ähnlich sah -, damit er untertauchen konnte? »Der Film aus der Überwachungskamera!«, schoss es ihm in den Kopf. Die CCTVs logen nicht. Auch wenn die schlechten Wetterbedingungen sie fast unkenntlich machten, handelte es sich auf dem Filmmaterial um zwei Männer.
»Daran habe ich schon gedacht«, sagte Yolanda. »Wenn nun Trevor der Kerl mit der Kapuze war und nicht der Jogger?«
»Hol mich der Teufel.« Angesichts der vielfältigen neuen Möglichkeiten schloss er einen Moment die Augen. Verkehrte Welt. Trevor der Mörder und nicht das Opfer? Rachel eine Lügnerin?
Als hätte sie seine Gedanken erraten, sagte Yolanda: »Egal, welche Schlüsse man letztlich zieht, steht zumindest fest, dass sie eine verdammt gute Lügnerin ist. Sie hatte mich – und wohl alle anderen auch – mit der Nummer von der trauernden Witwe um den Finger gewickelt. Muss uns für einen Haufen Idioten gehalten haben.«
Neville hörte die Bitterkeit aus ihren Worten heraus und wunderte sich einen Moment darüber.
»Idioten.« Er schnippte mit den Fingern. »Das sind wir auch! Wir vergessen eines.«
»Was?«
»Wir haben immer noch die Leiche! Das heißt, der Coroner hat sie.« Plötzlich grinste Neville triumphierend. »Die Kamera mag uns vielleicht ein X für ein U vormachen, aber die DNA sagt uns immer noch die Wahrheit.«
Yolanda nickte. »Allerdings …«
»Das heißt, wir brauchen lediglich ein bisschen von Trevors DNA, und wir sind aus dem Schneider.«
Sie stand auf. »Das darf ich wohl als einen Wink verstehen.«
»Mit dem Zaunpfahl, allerdings.« Er machte eine ausladende Geste mit beiden Händen. »Husch, husch zurück zu Rachel. Schnappen Sie sich eine Zahnbürste oder einen Kamm, egal, was. Ich schicke Ihnen dann ein bisschen später Sid vorbei, und Sie übergeben ihm die heiße Ware. Sehen Sie nur zu, dass sie keinen Verdacht schöpft. Sie darf auf keinen Fall merken, dass wir dabei sind, ihr auf die Schliche zu kommen.«
Vielleicht, dachte Neville, war das genau der Durchbruch, den sie brauchten. Nicht gerade der, auf den er gehofft hatte, aber manchmal war Polizeiarbeit eben so.
ELF
Mark kannte Joe schon ebenso lange wie Serena, und er hatte geglaubt, ihn gut zu kennen, wenn natürlich auch nicht so gut wie seine Schwester.
Irgendwann war sie in der Lage, ihm die Einzelheiten zu erzählen, das heißt, so viel, wie sie herausbekommen hatte.
Als sie Joes Jackett zur Reinigung bringen wollte, hatte sie einen Zettel – genauer gesagt, einen Liebesbrief – in der Tasche gefunden. Ein paar Tage lang grübelte sie darüber nach und stellte ihren Mann dann zur Rede. Mit dem Beweisstück konfrontiert, gestand er alles. Ja, er hatte eine Affäre. Mit einer seiner graduierten Studentinnen, einem Mädchen – einer Frau – namens Samantha Winters. Das bedeutete nicht, erklärt Joe, dass er sie nicht mehr liebte. Er stünde zu seiner Ehe, seiner Frau und seinen Töchtern. Es sei aber nun mal passiert.
Serena hatte versucht, das irgendwie zu akzeptieren, vertraute sie ihrem Bruder an, auch wenn sie es nicht verstand. Sie bemühte sich, nicht wütend zu sein. Aber es fiel ihr schwer. Entsetzlich schwer. Die Stabilität ihrer Beziehung hatte sie immer für selbstverständlich genommen. Das und die Tatsache, dass sie und Joe dieselbe Auffassung von der Ehe hatten: eine lebenslange Bindung, die man vor Gott einging, einschließlich des Treueversprechens. Jetzt sah es auf
einmal so aus, als ob Joe zu einer großzügigeren Interpretation gewechselt sei.
»Er sagt, er liebt mich noch«, sagte sie unter Tränen. »Aber wie kann das sein, wenn er so was tut, Marco? Ich begreife das einfach nicht.«
Mark wusste nicht, was er dazu sagen sollte, und fühlte sich auch nicht zum Sprecher für einen Geschlechtsgenossen berufen. Er hörte sich einfach ihren hervorbrechenden Schmerz an, tröstete sie mit Liebe und Verständnis und war an ihrer Seite, als sie sich zusammenriss, um sich bei Chiaras Heimkehr von der Uni ebenso wenig anmerken zu lassen wie am Abend vor den Gästen im Restaurant, vor allem aber gegenüber ihren Eltern. Mama und Papa durften niemals davon erfahren. So viel war beiden Geschwistern klar. Als Mark sich schließlich auf den Heimweg
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