Schule der Armen
ungezwungensten unterhalten sie sich bei einem Todesfall, mit dem Gefühl einer teilweisen Gelöstheit, als läge der Beweis vor, daß im Leben der Armen auch etwas Erfreuliches geschehen kann. Mit mehr Zurückhaltung und mit umständlicheren Zeremonien äußern sie ihre befangenen festlichen Gefühle bei der Hochzeit, als wüßten sie noch nicht, ob das Ereignis etwas Gutes oder Schlechtes für die Zukunft in sich birgt, sie ergeben sich ihr wie dem unabwendbaren Schicksal; die Geburt feiern sie mit ganz geringem Aufwand.
Das wirklich große Fest der Armen ist zweifellos der Leichenschmaus. Die Beerdigung ist selbst im Leben der Ärmsten ein großartiges Ereignis. Jetzt tafeln sie, trinken und singen mit verhüllter Schadenfreude, als ob es dem Toten gelungen wäre, mit raffinierter Schlauheit der Strafe des Lebens zu entrinnen. Nach Begräbnissen benehmen sich die Armen geradezu übermütig, sie wissen, daß mit ihrem Kameraden etwas Außerordentliches geschehen ist, sie grölen und tanzen sogar in einzelnen Gegenden.
Die Feste der Reichen ahmen die Armen weniger nach, sie feiern selten die Auszeichnung eines ihrer Kameraden mit dem Verdienstkreuz erster Klasse oder dessen Ernennung zum Bankpräsidenten, selbst der Fall, daß jemand fünfzig Jahre ununterbrochen Hausbesitzer war, ist kein besonderer Grund zur Feier. In ihrem Leben gibt es nur ein wirkliches Fest, und das ist der Tod. So talentlos sind sie. Ihre Feste begehen sie in geschlossener Gesellschaft unter Ausschluß der Reichen und immer kostümiert, im Kostüm der Armut, das ähnlich wie bei Fastnachtsbällen wie billiger Plunder wirkt.
Die gesellschaftlichen Einrichtungen der Armen sind überaus verwickelt, fast so kompliziert wie die der Reichen. Sie richten sich nebenbei auch noch nach den verschiedenen Gegenden, ebenso wie nach Idiom und Rasse. Die gesellschaftlichen Einrichtungen der Reichen dagegen werden durch internationale Vereinbarungen geregelt. Wer Geld hat, ist ein vornehmer Mensch, wer keins besitzt, nur ein Mensch, eventuell ein »sauber angezogener Gewerbetreibender« oder eine »zur Arbeiterklasse gehörige Frau«. Die Reichen kennen innerhalb ihrer eigenen Welt keine derartigen Unterscheidungen. Wir haben in der Zeitung noch nie gelesen, daß ein »Mann, seinem Äußeren nach ein Rechtsanwalt«, von der Trambahn überfahren wurde. Wenn ein Reicher auch abstammungsgemäß weniger vornehm ist und zudem kein besonders großes Vermögen besitzt, so zählt er dennoch rangordnungsgemäß zu den Reichen und gilt auch als Herr, wie beim Militär der Leutnant und der Feldmarschall gleich salonfähig sind.
Die Armen, die den Titeln und dem Rang viel mehr Bedeutung beimessen als die Reichen, klassifizieren sich untereinander und achten mit haarspalterischer Genauigkeit darauf, jedem Armen den nach Rang und Stand zukommenden Titel zu geben. Wie es unter den Reichen Geheimräte, Barone, Grafen und Fürsten gibt, so gibt es auch bei den Armen »Träger« und »Herrn Gehilfen«, es gibt Hausmeister, Aufseher, Vorarbeiter und Hilfsarbeiter, unter den Straßenkehrern gibt es Oberstraßenkehrer und Gelegenheitsstraßenkehrer, unter den Bettlern findet man mit Achtung und Neid behandelte vornehme Bettler, es gibt aber auch geduldete Parias, sogenannte Gelegenheitsbettler. Die Hierarchie der Armen klassifiziert sich skalenmäßig nach oben und nach unten, genau so wie die Reichen in ihrer eigenen Welt.
Die Reichen neigen zu der Annahme, die Armut sei gleichbedeutend mit dem Zustand der Geldlosigkeit. Davon kann keine Rede sein. Der Reiche, der keinen Pfennig besitzt – und wie viele solche gibt es –, ist noch immer unvergleichlich reicher als der Arme, der vier Anzüge im Schrank hängen hat, ein Häuschen mit Garten in der Vorstadt sein eigen nennt, um den sich vier pausbäckige Kinder tummeln, der eine kleine Pension bezieht, kurz, sein bescheidenes, aber sicheres Auskommen hat und noch dazu ein Sparkassenbuch für unvorhergesehene Fälle. Auch solche Arme gibt es mehr, als anzunehmen wäre.
Der arme Reiche ist nie so arm wie der gutsituierte Arme. Die Reichen wissen jedoch nicht, daß arm zu sein etwas Ähnliches bedeutet wie Chinese zu sein: etwas Unabänderliches.
Die meisten Armen besitzen überhaupt kein Geld: dies sind die »geduldeten Armen«. Auch zwischen den im Urzustand befindlichen primitiven Armen finden sich unfähige Stämme, die Erde essen, aber ebenso Stämme, die sich von Fleisch und Pflanzen ernähren und bescheiden, aber
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