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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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lebten und den Louvre noch nie betreten hatten. Ich behalte mir vor, auf die Analyse dieser eigentümlichen Erscheinung in einem späteren Kapitel zurückzukommen.
    Es stellt sich nun die Frage, was wir im Interesse des Armen tun könnten, um ihm die Schönheiten des Lebens zum Bewußtsein zu bringen und ihn für die erhabenen Szenerien der Natur empfänglich zu machen. Wie schon aus dem Obengesagten hervorgeht, wäre das einfachste, sicherste, zudem auch praktischste Mittel, ihm mit dem nötigen Geld den Auftrag zu geben, irgendwohin zu gehen und die Natur zu genießen. Um sich ungestört und interessenlos an der Natur zu ergötzen und sie richtig zu genießen, braucht man allerdings mehr Geld, als sich der Arme verschaffen kann. Der Mensch bildet sich nämlich ein, daß die Natur, die Berge und das Meer gratis dargebotene Sehenswürdigkeiten seien. Die Praxis lehrt dagegen, daß man zum wahren Genuß der Natur mehr Geld braucht als zu einem ästhetischen Genuß irgendwelcher anderen Art, und vielleicht könnte man sogar sagen, daß sich nur ein Rockefeller in aller Vollkommenheit und ohne jede materielle Voreingenommenheit der Bewunderung der Natur hingeben kann.
    Bekanntlich sind es die Reichen, die, ohne Mühen und Qualen zu scheuen, in der ganzen Welt umherreisen, um Augenzeugen eines überwältigenden Naturschauspiels, eines Wasserfalls, Vulkans oder eines Urwalds zu werden, während die Armen meist zu Hause hocken oder vor dem Schlafengehen noch schnell ihr Kartoffelfeld besichtigen. Infolge Geldmangels erhält der Arme von der Natur, wie von allem anderen, nur eine abgestandene Kostprobe, kleine Ausschnitte, eine angenutzte Natur, schäbige Landstriche, im besten Fall sozusagen ein Muster ohne Wert. Die Armen stillen ihre Sehnsucht nach der Natur meist vor einem bunten prachtvollen Plakat oder dank der Güte einer Reiseagentur mit Rundschreiben, die sie auffordern, interessante Gegenden ihres Vaterlandes zu besuchen oder eiligst nach Les Avants bei Montreux zu reisen, um nicht zu spät zur Narzissenblüte zu kommen. Die Reklame hilft den Armen in besonders nachdrucksvoller Weise, die Sehnsucht nach den Schönheiten der Natur zu befriedigen. Viele Arme haben schon im Wartesaal dritter Klasse des Aszóder Bahnhofs in der Wartezeit auf den nächsten Zug beim Anblick eines farbenprächtigen Plakats in Gedanken eine ganze Seereise erlebt. Die große Natur, auch Welt genannt, kennt der Arme meist nur von Plakaten her.
    Was tut also der Arme, wenn er sich nach der Natur sehnt? Er genießt ganz wenig, man könnte sagen, kaffeelöffelweise davon. Wenn sich der Schnellzug mit seinen Reisenden einer europäischen Großstadt nähert, so ist es kurz vor der Ankunft lohnend zu beobachten, wie der Arme mit den einfachsten Mitteln das Trugbild der Natur zwischen die Brandmauern einer Vorstadt zaubert. Nur Völker, die alt genug sind, um ihre hochentwickelte Kultur mit künstlerischer Maßhaltung zu genießen, naschen so vorsichtig von den Herrlichkeiten der Natur, wie es die Armen tun. Gleich den Chinesen und Japanern weiß auch der Arme, der zu einem der ältesten Völker der Erde gehört, daß wirklich schön immer nur das Wenige, das Auserwählte, das Dosierte ist.
    Nur Künstler spüren mit einem so sicheren Instinkt wie die Armen, daß nicht die Menge, sondern das Maß Schönheit bedeutet. Wenn wir uns die Gärten der Armen in den Vororten anschauen, so fallen uns unwillkürlich die Miniaturgärten der Japaner ein, mit ihren handtellergroßen Kunstgärten, fingerhutkleinen Blumenbeeten, winzigen Dahlien und Zwergbäumchen, mit kiesbestreuten schmalen Wegen, Brücken und Pagödchen; dieser Zaubergarten gedeiht, die Bäume blühen, die Blumen duften und vergehen, und dieses verkrüppelte, aufs kleinste Maß reduzierte Naturfleckchen hält an einer geheimnisvollen Verwandtschaft mit den Urwäldern, den Jahreszeiten, der Witterung und mit dem Mondwechsel fest. Genau so wirken auf uns die Gärten der Armen im Umkreis der Großstadt, diese eigentümlichen Anlagen, wo sie auf einigen durch Zäune eingefriedeten Quadratmetern Boden – denn niemand achtet so inbrünstig das Recht des Privateigentums wie die Armen! – intensivste Gartenkultur treiben, fünfzig Zentimeter schmale Rasenstreifen pflegen, zwanzig Zentimeter breite und zwei Meter lange Wege mit Kies bestreuen und auf kleinster Fläche eine Fülle von Pflanzenarten mit überraschendem Abwechslungsreichtum ziehen. Das Rosarium der Armen zum Beispiel besteht aus einem

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