Schule der Armen
verhältnismäßig gut leben. Die Armut ist nicht die unbedingte Folge der Zivilisation. Arme leben ebenso in gewissen australischen Gegenden, die ein Weißer noch nie betreten hat, wie in den entlegensten Provinzen Chinas, wo es Arme gibt, die von Peking noch nie etwas gehört haben. Die Welt duldet sie wie die Leprakranken.
Dann gibt es auch ausübende Arme, die durch die Zivilisation geschaffen wurden; ihre Töchter tragen kunstseidene Strümpfe, sie besuchen Kinos, und gewaltige Trusts erzeugen in der ganzen Welt für ihren Bedarf Konserven, Radioapparate und Konfektionskleidung; Schriftsteller schreiben auf ihren Geschmack abgestimmte Bücher, sie bewundern Filme in den Kinos, schicken Volksvertreter ins Parlament, und es ist leicht, sie glauben zu machen, daß sie die Herren ihres Schicksals sind.
In Wahrheit sind sie genauso arm wie der Eisbär in der Polarregion, nur mit mehr Verpflichtungen belastet. Ihre Desorientiertheit der Welt gegenüber ist verblüffend, und zu den Reichen führt für sie so wenig ein Weg wie von den Toten zu den Lebenden.
Den ausübenden Armen widme ich dieses Buch.
3
W enn wir den Armen zur Rechenschaft ziehen, warum er denn so dumm in die Welt schaue, und ihm energisch zur Kenntnis bringen »das Leben ist schön« – dann starrt er uns entgeistert an, dreht den Hut in der Hand, blickt sich hilfesuchend um, und da er nichts anderes sieht als Schule, Kirche und Behörde, die mit düsterem Echo die These wiederholen, neigt er sein Haupt und murmelt gehorsam: »Jawohl, Euer Gnaden. Das Leben ist schön.« Schwer von Begriff, ahnt er dabei nichts vom Reiz dieser These.
Alle Anstrengungen der Reichen sind vergebens, der Lehrer verkündet die These schon in der Volksschule vergebens, und so auch später der Pfarrer und die uneigennützigen Engel der Missionen; die wohltätigen Damen der Gesellschaft veranstalten vergebens mit Lichtbildern geschmückte Vorträge über die Schönheiten des Lebens, nur ganz wenige Arme konnte man davon überzeugen, daß die Erde dem Garten Eden gleiche, welcher ohne Unterschied für arm und reich seinen Überfluß darbiete, und daß der Zauber der Abenddämmerung oder die Symphonie des Tagesanbruchs gleichmäßig alle Bewohner der Erde entzücken könne. Der Arme »hm-hm’t« vor sich hin, wenn er dies hört. Von behördlicher Seite hat man ihm des öfteren und nachdrücklich versichert, daß das Leben schön sei, er dürfe nicht verzagen, nur arbeiten, dulden, die Natur bewundern oder seine Seele zu Gott erheben, und dann würde in der kürzesten Zeit alles wieder in Ordnung kommen.
Der Arme versteht in seiner Beschränktheit nicht einmal, was denn eigentlich in Ordnung kommen soll. Ob das Leben schön oder nicht schön ist, diese ästhetische Frage beschäftigt seine Phantasie so wenig wie das Problem, ob der Kavalier englisches Lavendel oder Kölnisch Wasser in sein Waschwasser schütten soll.
Unsere erste Aufgabe wäre also, dem Armen die Schönheiten des Lebens zum Bewußtsein zu bringen und ihm den Schlüssel zu jeglichem Genuß in die Hand zu geben: die Beziehung des Menschen zur Natur.
Schau, könnten wir dem Armen sagen, hier ist die Welt. Sieh dich um, dies alles gehört dir. Die Weite des Ozeans, der kalte Stahl, der erste gebrochene Strahl der Frühlingssonne mit allen seinen Farbschattierungen. Die grünen Matten, das frischgeackerte Feld mit dem Septembernebel. Des Waldes Domdämmerung mit Wild, Vögeln und dem betäubenden Duft des feuchten Laubes. Ein Weinberg, der sich mit Sonnenlicht satt getrunken hat und nun schweren, zuckersüßen Duft ausatmet. Schneebedeckte Gipfel, ein Bergsee, wild wachsende Blumen. Ein junges Mädchen in der Hängematte, unter ihr smaragdgrüner englischer Rasen. Staubige Straßen entlang geheimnisvollen Tannenwäldern. Goldumsäumte Bergsilhouetten. Nach Farnkraut duftende vergißmeinnichtvolle Kühle am Gebirgsbachufer. Du brauchst nur die Hände auszustrecken, alle diese Herrlichkeiten zu bemerken, anzuschauen, und schon ist die Welt dein. Siehst du es denn nicht? – Und der Arme, den wir so fragen, zuckt mit der Achsel und schweigt.
Fragen wir den Armen, was er von einer malerischen Gegend gesehen hat, die er mit einem Sack Gerstenschrot auf dem Buckel von Ort zu Ort inmitten duftender Wälder und blumiger Wiesen durchwandert hat. Die Antwort wird lauten: »Die Klee-Ernte wird heuer gut ausfallen«, oder »Schweine haben im Eichenwald geweidet.« Das ist alles, was er zu sagen hat, wenn wir ihn über
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