Schule der Armen
die Schönheiten der Gegend, die er durchwanderte, befragen.
Und wenn er einen schönen Vogel sieht, fällt es ihm nicht ein, das Leben zu preisen – gleich wirklich edlen und vornehmen Armen wie zum Beispiel dem heiligen Franziskus von Assisi –, nein, er bewundert nicht die ergreifende Farbenpracht des Gefieders der Vögel, freut sich nicht, daß dieses zarte, zerbrechliche Leben im Sonnenschein frei umherflattert. Dagegen konzentriert er seine volle Aufmerksamkeit und seinen Willen auf das einzige Ziel: den Vogel ins Netz zu locken und zu verspeisen.
Durchwandert er eine fruchtbare Gegend, so versäumt er keine Gelegenheit, um eine Rübe aus dem Boden zu reißen, einige Kolben Mais abzubrechen oder Trauben zu schmausen. Die Natur erweckt in ihm ausschließlich kannibalische Gelüste. Am liebsten würde er seine Nahrung in der freien Natur suchen; dieser niedrige Trieb ist beinahe unvereinbar mit dem von der Natur gebotenen ästhetischen Genuß: Beim Anblick von schneebedeckten Berggipfeln denkt er, die Zeit sei gekommen, Reisig zu sammeln, statt durchdrungen vom erhabenen Schauspiel seine Seele zum Allmächtigen zu erheben. Die Landschaft sagt ihm wenig. Dieses übertrieben Materielle, die verdrießende, hartnäckige Betonung der praktischen Gesichtspunkte, welche im Verhältnis der Armen zur Natur immer wieder zum Ausdruck kommen, macht sie vollkommen ungeeignet zum Genuß des Schönen an sich.
Die überwiegende Mehrzahl der Armen kennt nicht einmal die grundlegende These der Ästhetik, die kategorisch und unmißverständlich vorschreibt, daß schön ist, was ohne persönliche Interessen als schön empfunden wird. Im Gegenteil. Ihr ästhetisches Empfinden wird am meisten von Dingen befriedigt, die ihnen vom persönlichen Nützlichkeitsstandpunkt aus gefallen. Der Arme kann sich beim Anblick von einem Kilo Rindfleisch begeistern; glotzt aber gleichgültig vor sich hin, wenn es um eine Landschaft auf Spitzbergen geht. Betrachtet er das Meer, so denkt er an das Trinkgeld, das er bei der nächsten Kahnfahrt von reichen Fremden erhalten wird. Und wenn der Großgrundbesitzer in der Nachbarschaft sein intensiv bewirtschaftetes paradiesisches Nutzgut betrachtet, so fällt ihm ganz bestimmt nichts Erhabenes ein.
Es ist eine bedauerliche Tatsache, daß der Arme sich an die Herrlichkeiten der Natur gewöhnt hat und ihren Reizen gegenüber abgestumpft und gleichgültig geworden ist. Er lebt inmitten dieser Pracht wie der Bühnenarbeiter zwischen fabelhaften Dekorationen, ohne daß sie ihm wirklich etwas bedeuteten. Wenn wir aber unter den Armen nach den Ursachen des vollkommenen Mangels an Aufnahmefähigkeit für die augenfälligsten Schönheiten der Natur forschen, gelangen wir, so unwahrscheinlich es auch klingen mag, zu der Feststellung, daß das Bestehen oder das Fehlen des ästhetischen Empfindens in erster Linie eine Geldfrage ist. Wir selber schrecken ein wenig vor dieser sonderbaren und gewagten Behauptung zurück, zu der uns jedoch die Erfahrung zwingt.
Vielleicht ist es so, weil der Arme sein Leben lang nur einen engbegrenzten Teil der Natur sieht – sagen wir, zwei Hügel, einen Bach, etwas Ackerland, einen Feldweg oder eine Akazienreihe am Horizont – und nie zu einem überwältigenden romantischen Anblick – wie der Stille Ozean, das Jungfraumassiv, eine englische Landschaft aus dem Fenster des Zuges, die Sahara vom Flugzeug aus gesehen – gelangt. Und sollte er dennoch hinkommen, so würde seine Aufnahmefähigkeit nicht mehr für den Stillen Ozean reichen. Ich hege den geheimen Verdacht, daß der Arme, was immer man ihm zeigt, stets an etwas ganz anderes denkt. Vielleicht denkt er immer an das gleiche. Sobald er aber zu Geld kommt, wächst sein ästhetisches Empfinden im Verhältnis zum erworbenen Vermögen. Solange er kein Geld besitzt, gibt er sich damit zufrieden, abends auf dem Donaukai zu sitzen, sich zu kratzen und gedankenlos vor sich hin zu starren. Kaum klimpern aber einige Münzen in seiner Tasche, schon wagt er einen Ausflug mit dem Schiff nach Visegrád, und sobald er in den Besitz eines namhafteren Betrags kommt, unternimmt er eine Reise in die Tiroler Berge und ruft aus: O wie schön!
Schon häufig hatte ich Gelegenheit, bei Armen derartige Metamorphosen zu beobachten. Im Verhältnis dazu, wie sein Geld abnimmt, schwindet auch die Anziehungskraft der Natur. Ähnlich gestalten sich die Beziehungen der Armen zur Kunst. In Paris kannte ich eine Anzahl Armer, die seit Jahrzehnten dort
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