Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
durcheinander und nicht selten recht geschmacklos ißt, zweifellos einen großen Erfolg erzielen.
    Mit etwas Phantasie kann man selbst die langweiligsten Speisen in schmackhafte umwandeln. In meiner armen Jugend verabscheute ich den Wirsing, bis mein Onkel mich eines Tages darüber aufklärte, daß diese schmackhafte Kohlsorte zu den Lieblingsspeisen des Kaisers von China gehöre. Von diesem Augenblick an aß und esse ich, wenn auch nicht besonders gern, aber dennoch immer etwas verträumt, den Wirsing.
    Wie unregelmäßig und planlos die Armen essen, dafür liefert der Nansen-Bericht von 1920 interessante Beispiele; er weist mit Hilfe von Lichtbildern und an Ort und Stelle gesammelter Belege die seltsame Tatsache nach, daß zu jener Zeit an den Ufern der Wolga die Armen ihre Kinder aufaßen. Diese ungewöhnliche Art der Ernährung hat bereits im 18.   Jahrhundert Jonathan Swift, ein anglikanischer Geistlicher, der englischen Regierung zur einfachsten Lösung des schon damals aktuellen Problems der Armut empfohlen.
    Ein weichgekochtes Ei oder eine Portion Kaldaunen langsam, mit eleganten Bewegungen und voller Hingabe zu verzehren verleiht zweifelsohne einen ähnlichen Genuß, wie die Speisenfolge einer königlichen Tafel abzuessen oder teilzunehmen an den heutzutage so häufigen offiziellen Banketten, die im krassen Widerspruch stehen zur verfeinerten und wahren Feinschmeckerei.
    Es ist überhaupt am ratsamsten, zu zweit zu speisen. Diesen Luxus können sich auch die Armen manchmal leisten. Allein zu speisen erinnert an geheime Jugendsünden, und in großer Gesellschaft maßlos zu essen gleicht einer Orgie niedrigsten Grades. Der kultivierte Arme, der Sinn für festliche Stimmung hat, speist also möglichst zu zweit. Das in Gesellschaft eines nicht zu langweiligen Freundes oder der inspirierenden Freundin verzehrte Mittagessen, selbst das allereinfachste, gehört zu den intimsten festlichen Augenblicken des Lebens. Wir sollten lernen, das Essen als einen so intimen Vorgang zu betrachten wie den Liebesakt: Ein Mensch ist zu wenig, aber drei sind zu viel. Genau zwei gehören dazu. Darin liegt das Geheimnis seines Zaubers.
    In der Welt der Armen hat sich das Vorurteil eingenistet, ein materielles Opfer in Form eines Abendessens sei das zweckmäßigste Mittel, um die Gunst einer Frau zu erobern. Ich nutze die Gelegenheit, um an dieser Stelle einer ganz falschen Ansicht entgegenzutreten. Die Frauen lieben das Mittagessen nicht weniger als das Souper, hingegen kostet nach meiner Erfahrung das Mittagessen in Frauengesellschaft weniger und führt sogar leichter zum Ziel.
    Besonders zu Herbst- und Winterszeiten, wenn in den Restaurants schon gegen zwei Uhr die Lichter brennen, stellt sich bald bei der Frau jene seltsame Stimmung ein, die sie leicht zur Liebe hinleitet. Es ist noch halbwegs Tag, und dennoch hat die Uhr noch keine Rechte über die törichte Nervosität der alltäglichen Beschäftigung; die Beleuchtung ist weicher und persönlicher als abends, wo alles eher programmäßig wirkt. Auf kurze Zeit aus dem Trubel des Alltags herausgehoben, verleiht uns ein kleines festliches Essen à deux das Erlebnis eines außergewöhnlichen Ereignisses. Die Teilnehmer haben erst unlängst das Bett verlassen, ihre Sinne sind frisch und unverbraucht.
    Die ganze Zeremonie des Mittagessens, ja selbst sein Geruch, ist anders als beim Abendessen. Die Suppe, besonders wenn sie im Teller serviert wird, erweckt in der Frau sofort ein gewisses Gefühl der Häuslichkeit; diese Intimität von Anfang an vermag die mehr oder weniger kalte Vorspeise des Soupers in der Frauenseele nie hervorzurufen. Mittags bestellen wir Speisen, die abends unvorstellbar wären: ein saftiges Gulasch, eingemachtes Huhn oder Schweinefleisch mit Sauerkraut; diese einfachen häuslichen Gerichte erfüllen die Frau ohne jeden Übergang mit Vertrauen. Der mittags genossene Wein wirkt ganz anders als der nächtliche Weinkonsum. Mittags trinken wir weniger (am zweckmäßigsten Rotwein), jedoch mit mehr Bedacht; die Blicke entzünden sich, die Sinne stumpfen aber nicht ab.
    Nebenbei ist das Mittagessen immer billiger als das Souper, und es entfällt danach auch der Besuch einer Bar oder eines Nachtkaffees. Ohne die profanen Möglichkeiten der Nacht vermag der Arme nach dem Mittagessen freier über seine Liebe zu sprechen, und er braucht nicht zu befürchten, daß die Frau ihr Kleid in einem Nachtlokal zu zeigen wünscht. In Paris habe ich häufig gesehen, wie erfahrene

Weitere Kostenlose Bücher