Schule für höhere Töchter
Seite; Kate tat es leid, daß dieses Thema gerade jetzt anstand. Sie nutzte ihre drei Minuten, um eine rechtswissenschaftliche Abhandlung von Daube zu besprechen, in der es um die Frage ging, wo anhand von drei großen antiken Beispielen die Pflicht zu Gehorsam gegeben ist: bei Orest, der auf Apollos Befehl seine Mutter tötet und von den Eumeniden verfolgt wird; bei den fünfzig Töchtern des Danaos, die auf Befehl ihres Vaters in der Hochzeitsnacht ihre Ehemänner töten und so in den Konflikt zwischen Gehorsam gegenüber dem Vater oder Aphrodite geraten (die Mädchen schienen diesen Fall sehr ausführlich diskutieren zu wollen, doch Kate bestand auf ihrer Einleitung und zog die Zeit der Diskussion von ihren drei Minuten ab; für diesen Zweck hatte sie sich sogar eine Stoppuhr zugelegt); und Antigone, im Zwiespalt zwischen Kreons Befehl und dem Gebot der Religion und der Liebe zur Familie.
Leider, fuhr Kate fort, machte die Erkenntnis, daß das Problem des Ungehorsams älter war als erwartet, die Entscheidung, wo die Pflicht eines Menschen läge, nicht leichter. Und genau darum ging es im griechischen Drama, wenn nicht im Leben allgemein; vielleicht galt es, Antigone sogar besonders hervorzuheben, da sie jedenfalls richtiger gehandelt hatte als Orest und die Danaiden, abgesehen von der einen der fünfzig, die Gefallen an ihrem Bräutigam gefunden und ihn nicht umgebracht hatte. Falls es jemanden interessiert, meinte Kate mit einem Seitenblick auf den Sekundenanzeiger, ihr Name sei Hypermnestra.
Während der ganzen Zeit wirkte Angelica fast wie immer, höchstens ein wenig stiller. Die anderen gingen das Thema mit gewohnter Lebhaftigkeit an; Irene und Elizabeth vertraten die Meinung, Ismene habe durchaus recht, da sie, wie Antigone, eine Frau war; es sei nicht ihre Aufgabe, Befehle zu erteilen oder ihnen zuwiderzuhandeln. Kate wäre gern näher auf diesen Gesichtspunkt eingegangen, hätten sich nicht die anderen mit so viel Energie auf Irene und Elizabeth gestürzt. So hatte sie alle Hände voll zu tun, die Ordnung wiederherzustellen.
»Und wie steht es mit Antigones Argument, daß sie nie einen anderen Bruder haben kann, ihm deswegen mehr schuldet als einem Ehemann oder Kind, die im Fall des Todes ja ersetzbar wären«, fragte Angelica.
»Wirklich, eine ungeheuerliche Vorstellung«, sagte Alice.
»Und obendrein falsch«, sagte Freemond, die anerkannte Griechisch-Autorität, »wenigstens sagt das Jebb, obgleich Aristoteles sie zitiert; die Auffassungen gehen da ziemlich weit auseinander. Fest steht, daß die ganze Geschichte nicht viel Sinn ergibt und eher eine jesuitische Argumentation ist, ganz anders als Antigones sonstige Äußerungen, die direkt und unkompliziert sind; ich hoffe, ich habe dich nicht gekränkt, Elizabeth.«
»Ich finde das gar nicht so kompliziert«, sagte Angelica. »Antigone sagt meiner Meinung nach, daß eine Frau jedermanns Ehefrau oder Mutter sein kann, aber nur die Schwester ihres Bruders. Das ist die wohl einzige von den Göttern verfügte Rolle der Frau im alten Griechenland, und deshalb fühlte sie sich ihrem Bruder rückhaltlos verpflichtet.« Ihre Stimme zitterte ein wenig, aber vielleicht hatte Kate sich das auch nur eingebildet. Nach kurzem Zögern lenkte Kate die Diskussion wieder auf den Konflikt zwischen dem Gesetz des Staates und dem Gebot des Gewissens zurück. Aber das war nicht nur ein Thema für griechische Dramatiker. Sokrates gehorchte eher seinem Gott als den Athenern, Jeanne d’Arc ihren Stimmen und Thomas More seinem Glauben. Die Nürnberger Prozesse haben genau diesen Punkt behandelt, und auch der Fall des Soldaten, der in einer Demokratie den Befehl erhält, in eine Menge demonstrierender Pazifisten zu feuern, ist nicht so neu, wie man annehmen möchte. Soll er dem Gesetz des Militärs gehorchen oder dem Gesetz des Landes?
»Alles läßt sich auf die Liebe zurückführen, nicht wahr?« fragte Irene. »Sie konnte ja genausowenig eine andere Schwester bekommen, oder?«
»Aber die Seele ihrer Schwester war nicht in Gefahr«, sagte Freemond. »Und es gibt Leute, die meinen, sie hat Ismene nicht an ihrem Schicksal teilhaben lassen, um ihr Leben zu retten.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Alice. »Sie wollte nur die Ehre für sich allein.«
»Was ist denn so Ehrenvolles daran, zu Tode gesteinigt oder in einem Gewölbe eingemauert zu werden?«
»Wenigstens ist es nicht langweilig«, seufzte Alice mit dem Weltschmerz, zu dem nur sehr junge und sehr alte Menschen
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