Schule versagt
Der eine kaufte sich unsere Unterrichtsbeteiligung während seiner Prüfung mit Schokoküssen, die andere machte Dienst nach den Vorschriften pädagogischer Lehrbücher. Alle wollten schnell verbeamtet werden und alle liebten sie die auswendiglernenden Nichtsversteher. Sie gehörten oft selber dazu. Frau J. z. B. lernte das Lehren bei uns im Fach Deutsch und las mit uns Sophokles’ »Antigone«. Da sie selber das Stück inhaltlich nicht verstand und sich auch nicht einmal die Mühe machte, die korrekte Aussprache der Namen der Charaktere im Stück nachzuschlagen, war der Lernerfolg auf beiden Seiten des Lehrertisches minimal bis nicht vorhanden. Völlig ermattet von dem Stück fragte ein Schüler, warum wir denn ständig »diese alte Scheiße« lesen würden. Mal was Neues wäre schön, was Frisches, etwas, von dem man auch etwas lernen könne. Ja, gestand Frau J., sie verstehe es auch nicht so ganz, zumal – und das war tatsächlich ihre Schlussfolgerung nach drei Wochen Stoffbehandlung – »Antigone« keinerlei Bedeutung für unsere heutige Zeit mehr besitze. Und die Auswendiglerner? Sie schrieben alles mit. Schlussfolgerung, Doppelpunkt, »Sophokles’ ›Antigone‹ lässt sich auf die heutige Zeit und den heutigen gesellschaftlichen Kontext nicht übertragen«, Punkt.
Der amerikanische Unternehmensberater Stephen Covey 3 lehrt uns, man solle sein Leben mit »rechts« führen und mit »links« managen und bezieht sich dabei auf die beiden Hirn-Hemisphären. Links sitzt die Ratio, rechts die Emotion. Welche der beiden Hirnhälften wird in der Schule benutzt? Zyniker würden sagen, gar keine. Betrachtet man den Unterricht, stellt man fest, dass es ausschließlich die linke ist. Die Ratio, das kühle, kalkulierende Denken, welches perfekt mathematische Gleichungen oder Gedichte auswendig lernen kann. Doch funktioniert das wirklich? Was wissen Sie aus 13 Jahren Mathematikunterricht noch? Was mich angeht: die vier Grundrechenarten, den Dreisatz und ein bisschenFlächen- und Volumenberechnung. Lehrstoff, den man binnen einer Woche gelernt hat. Wo sind die anderen 12 Jahre und x Wochen? Alles, was keinen praktischen Nutzen für das eigene Leben hat, wird über kurz oder lang vom Hirn aussortiert. Redundante Datenverarbeitung nennt man es im I T-Bereich . Alles, was nutzlos ist, fliegt raus. Die Hirnforschung weiß seit Langem, dass dies ein Selbstschutzmechanismus des Denkorgans ist. Albert Einstein sagte einst: »Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn man alles vergessen hat, was man in der Schule gelernt hat.«
Ich habe keine Vokabeln auswendig lernen müssen, um diesen Text zu schreiben, und Sie müssen nichts auswendig lernen, um ihn zu verstehen. Unsere Kenntnis stammt aus einer Zeit, als uns das beidseitig-hemisphärische Denken noch nicht aberzogen worden ist, aus der Zeit, als wir noch ein vollständiger Mensch waren und die wichtigen Dinge im Leben intuitiv erlernten. Selbst Fächer, welche die Kreativität beanspruchen und fördern, wie etwa Kunst, befassen sich ebenfalls zum größten Teil mit dem Auswendiglernen. Kreatives Schreiben im Deutschunterricht? Das gab es bei mir nur einmal in der 6. Klasse für einen Tag. Fast scheint es so, als fürchteten sich die Lehrer vor der Kreativität der Schüler. Vielleicht weil sie nicht mit Patentlösungen aus ihren Fachbüchern zu kontrollieren ist. Picasso wurde wann geboren, gehörte zu welcher Kunstepoche? Das ist in der Schule wichtig, nicht die Inhalte, nicht die Zusammenhänge. Wer, wann, was, wo – sind die Fragen, die geklärt werden, nicht das Warum. Im besten Fall kommt es im Klassenzimmer zu einer Vermittlung von Fakten, aus denen dann, ebenfalls im besten Fall, eine Analyse folgt. Zu einer Synthese führt der Auswendiglernprozess kaum. Um allerdings einen nachhaltigen Lernprozess in Gang zu setzen, ist die fächerübergreifende Vernetzung von Wissen essenziell. An der Design-Hochschule lernt man als Erstes das Beobachten. Wie fällt das Licht durch das Fenster? Wie wird es auf unterschiedlichen Oberflächen reflektiert? Jetzt wenden Sie das in Ihren Bildern praktisch an, kreativ! Beobachten, nachmachen, verstehen. Das ähnelt sehr dem klassischen Dreiklang des Lernens: »Beobachten, Anwenden, Reflektieren«. Auswendiglernen kommt dort nicht vor. Wozu auch? Wer das Warum und das Wie versteht und es dann auch noch anwenden kann, braucht nichts auswendig zulernen. Und verstehen kann man über kurz oder lang nur, indem man beide
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