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Schule versagt

Schule versagt

Titel: Schule versagt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Faltin , Daniel Faltin
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nach, wie sie ihrer Mutter   – einer polnischen Einwanderin   – erklären konnte, dass sie erneut eine Sechs bekommen hatte und ihre Schullaufbahn wieder mal kurz vor dem Aus stand. Maras Eltern lebten getrennt, die Mutter arbeitete in Vollzeit und Mara war froh, dass sie überhaupt die Chance hatte, das Abitur machen zu können. Herr M. ahnte wohl, dass Mara sich niemals hätte zu Wehr setzen können   – nein, er wusste es. Was immer der kleine König auch entschied   – Daumen hoch oder runter   –, es waralles legitimiert durch seinen Status. Seit 20   Jahren unterrichtete Herr M.   Mathematik und Chemie an dieser Schule, jeden Tag, immer das Gleiche   – Graphen, Kurven, Plus, Minus, vor und zurück. Vielleicht war er seiner eigenen Existenz überdrüssig oder zu Tode gelangweilt, wahrscheinlich kannte er die Lehrbücher und die dazugehörigen Lehrerausgaben, in denen sämtliche Lösungen zu finden sind, schon auswendig. Aber auf seinem kleinen Spielfeld war er der Herrscher.
    »Was ist?«, fauchte er Mara an und genoss es sichtlich   – ein wehrloses, hübsches Mädchen, ganz ihm ausgeliefert. »Ich weiß nicht«, brachte Mara heraus und hatte innerlich die Sechs, die unweigerlich hinter ihrem Namen in Herrn M.s Notenbuch auftauchen würde, schon für sich verbucht. So leicht, und das wusste jeder, würde die Prozedur allerdings nicht werden. Herr M. drängte und forderte Mara auf, vor der gesamten Klasse zu gestehen, dass sie wieder mal keine Hausaufgaben gemacht habe. Hätte sie dies getan, würde sie jetzt nicht so kläglich scheitern, schlussfolgerte er und Mara gestand: »Ja«, »Ja«, zu allem »Ja«. »Kann ich mich jetzt wieder setzen?« Nein, konnte sie nicht, denn jetzt kam Runde zwei.
    Herr M. transformierte sich von einem Satz zum nächsten   – ein weiteres seiner Talente   – zu der Ich-bin-doch-der-liebe-Papi-Figur, verstellte seine Stimme und in einem Du-dumme-kleine-Schülerin-Tonfall las er Mara die Aufgabe erneut vor. Ein hilfreicher Gutmensch, ist doch nett und die Aufgabe ganz einfach. Warum sie sich denn so anstelle, wollte er wissen. Er gab Mara noch großzügig einen kleinen Tipp, und so fing sie mit zittriger Hand an, die Gleichung umzustellen. Sie schrieb langsam und tat so, als würde sie alles nochmals ganz genau nachrechnen wollen. Eine Strategie, die viele von uns benutzten, denn wenn man rechnete, hielt der Sadist seinen Mund, also musste der Rechenprozess lange dauern und gründlich musste er auch sein, denn jeder Fehler zog peinigende Konsequenzen nach sich. Doch auf Zeit spielen brachte immer nur Sekunden der Erholung. Eine ganze Zeile schaffte Mara so und Herr M. merkte schnell, dass sie versuchte, Zeit zu schinden. »Was ist? Weiter, weiter, ist doch alles ganz einfach!«, strahlte er, wie ein Vater, der seinem unsicheren Kind das Radfahren beibringen will. Mara bekam einen roten Kopf, warmit ihrem Latein am Ende und drehte sich hilfesuchend zu ihm um. Doch Herr M. gab keine Tipps mehr   – jedenfalls nicht heute. Runde drei.
    Sein Lächeln verschwand so schlagartig, wie es gekommen war. »Also du willst nicht«, schlussfolgerte er, nun wieder ganz kühl. »Ich gebe dir hier die Chance, deine Note zu verbessern, aber du willst nicht.« Herr M., der Gutmensch, verteilte Almosen und Chancen, doch seine dummen kleinen Schüler waren allesamt charakterlich fragwürdige Betrüger, die seine helfende Hand wegschlugen   – er war das arme Opfer, wir die Täter. Perverser hätte er die Realität nicht wenden können. Mara verstand die Welt nicht mehr und machte den Ansatz zu widersprechen. Doch Herr M. unterbrach sie harsch und wandelte sich wieder in den aggressiven Diktator. Er explodierte. Es folgten minutenlange Monologe. Wie faul sie und alle Schüler doch seien, wie dumm   – eine einzige Zumutung. Er tobte und wütete. Maßlose Respektlosigkeiten wurden Mara an den Kopf geschleudert. Nach diesen Minuten, die sie schweigend an der Tafel stehend verbracht hatte, ging sie unter Tränen zu ihrem Platz zurück. Punkt, Satz und Sieg für den Sadisten. Ein Schüler war vernichtet, Zeit genug für einen oder zwei weitere war immer   – meistens jedenfalls. Wie viele von uns zur Schlachtbank geführt wurden, hing einzig und allein von der Lust und Laune von Herrn M. ab. Manchmal hatte er sich auch schon bei dem ersten Kandidaten so ausgetobt, dass er keine Kraft mehr hatte, die Prozedur ein zweites oder drittes Mal durchzuexerzieren. Seine mangelnde

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