Schumacher, Jens - Deep
verengte er die Augen. »Ihr habt schon im Team darüber gesprochen, stimmt’s? Warum weiß ich nichts davon?«
Wren machte eine beschwichtigende Geste. »Du warst mit anderen Dingen beschäftigt. Außerdem schließt Vincent noch immer nicht aus, dass er sich möglicherweise irrt.« Sie zögerte kurz. »Sollte er allerdings Recht behalten, wäre diese Stätte älter als Dubois’ Java-Mensch.«
»Der Java-Mensch?« Rasch rief sich Wilkins die Fakten der Entdeckung eines seiner frühen Berufskollegen, des niederländischen Anthropologen Eugene Dubois, ins Gedächtnis. Dubois hatte im Jahre 1891 am Ufer des Solo-Flusses in Ost-Java Fossilien eines bis dato unbekannten Vorfahren des Menschen gefunden, einer primitiven, affenartigen Kreatur, die später unter dem wissenschaftlichen Namen Homo erectus javanicus bekannt wurde. Der Fund erregte großes Aufsehen, weil er die damalige Theorie stützte, der früheste Vorfahr des neuzeitlichen Homo erectus könnte sich im asiatischen Raum entwickelt haben. Erst fünfzig Jahre später sollte sich die Theorie durchsetzen, dass in Wirklichkeit Afrika die Wiege der Menschheit gewesen war und sich der aufrecht gehende Mensch von diesem Kontinent aus über den Erdball verbreitet hatte.
»Älter als der Java-Mensch?«, wiederholte Wilkins mit gerunzelter Stirn. »Aber die Kalium-Argon-Datierung von Dubois’ Funden ergab, dass der javanicus vor mindestens einer Million Jahren gelebt hat. Möglicherweise auch vor eineinhalb.«
Wren sah ihn mit großen Augen an. »Verstehst du jetzt, weshalb Vincent nicht über seine Vermutung sprechen will, bevor er weitere Beweise in der Hand hat? Falls er recht behielte, wäre unser Fund eine noch viel größere wissenschaftliche Sensation, als wir dachten.«
Donald Wilkins schüttelte benommen den Kopf. »Eineinhalb Millionen Jahre … Tregellis muss sich täuschen. Der javanicus war ein halber Affe, grobknochig, mit flachem Schädeldach. Wie sollte er – oder seine Vorfahren, falls diese Kammer tatsächlich noch älter wäre – Schriftzeichen wie diese erschaffen können? Das ist doch abwegig!«
Wren nickte bedächtig. »Deswegen ist es wichtig, dass wir so viel wie möglich über diese Stätte herausfinden, bevor die Indonesier anrücken und hier ein heilloses Chaos veranstalten.« Sie deutete in die Höhe, um ihn zum Weiterklettern zu bewegen.
Wilkins drehte sich um und bestieg die nächste Leiter.
Eineinhalb Millionen Jahre.
Die Worte, die einen Altertumsforscher eigentlich zu einem spontanen Freudentanz hätten motivieren sollen, hallten unheilvoll in Donald Wilkins’ Kopf wider. Überrascht stellte er fest, dass sich auf seinen Armen und in seinem Nacken eine Gänsehaut gebildet hatte. Als er versuchte, den Grund zu verstehen, wurde ihm klar, dass er beim letzten Mal, als er mit den jahrmillionenalten Hinterlassenschaften eines unbekannten Volkes zu tun gehabt hatte, um ein Haar ums Leben gekommen wäre.
Er blieb abrupt stehen. Schlagartig wurde ihm klar, dass er sich auf diese Reise begeben hatte, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was die kürzlichen Erlebnisse mit ihm gemacht hatten – der Fund einer jahrmillionenalten Stadt in der Antarktis und die daraus erwachsende Erkenntnis, dass die Erde Äonen vor der Entstehung menschlichen Lebens von einer Rasse unvorstellbarer Kreaturen beherrscht worden war. Wie würde dieses Wissen seinen künftigen Umgang mit der Vergangenheit beeinflussen?
Während der endlosen Tage, die er, infiziert von dem außerirdischen Mutagen, apathisch in einer lichtlosen Kaverne unter dem Erdboden gelegen hatte, waren ihm Einblicke in die Denkmuster und Ziele jenes uralten Volkes vergönnt gewesen. Es waren Eindrücke von solcher Fremdartigkeit gewesen, dass sie einen Menschen mit weniger gefestigtem Charakter innerhalb kürzester Zeit in den Wahnsinn getrieben hätten. Auch wenn sich Wilkins mittlerweile an viele der Dinge, die er im Fieber geträumt hatte, nur noch bruchstückhaft erinnerte, war ihm klar, dass er der einzige Mensch auf der Welt war, der so etwas je erlebt hatte.
Möglicherweise hatte Eileen recht gehabt. Vielleicht war es nicht klug gewesen, sich nach so kurzer Erholungsphase schon wieder auf eine Forschungsreise zu begeben. Die Aussicht auf eine bahnbrechende Entdeckung hatte ihn dazu verleitet, sein schützendes Zuhause zu verlassen und in den unterirdischen Hinterlassenschaften eines weiteren alten Volkes zu wühlen, ohne sich auch nur einen Moment zu fragen, ob
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