Schwaben-Hass
Ergebnis.
Es war wie verhext. Ein Großteil der Kriminalbeamten schob Überstunden, das Kind jedoch blieb spurlos verschwunden.
Zusätzliche Brisanz entwickelte die Angelegenheit drei Wochen später: An einem Angelsee bei Weil im Schönbuch, nicht weit von Filderstadt entfernt, war der elf Jahre alte Tobias, durch zahlreiche Messerstiche getötet, gefunden worden. Der Druck auf die ermittelnden Beamten hatte sich erneut schlagartig verstärkt, Hysterie und Angstpsychosen drohten, sich auszubreiten. Erst Alexandra, dann Tobias.
Hatte derselbe Täter zugeschlagen, der für Alexandras Verschwinden verantwortlich war? Würde er weiter morden? Konnte man Kinder überhaupt noch unbeaufsichtigt aus dem Haus lassen? Immer mehr Eltern beantworteten diese Fragen mit einem eindeutigen Nein, begleiteten ihre Töchter und Söhne auf jedem Weg. Unmut und Verärgerung über die Misserfolge der Kriminalpolizei wuchsen.
Mitte November dann ein Ermittlungsergebnis: Ein erst 16-jähriger Schüler wurde als mutmaßlicher Mörder des kleinen Tobias ermittelt. Das Entsetzen und die Empörung waren riesengroß, die Nachricht von der Verhaftung des jugendlichen Täters verbreitete sich in Windeseile in der gesamten Region.
Ein pubertierender Heranwachsender als Täter? Was war los mit der jungen Generation? Welche Umstände veranlassten einen erst 16 Jahre jungen Mann, ein Kind zu töten? War die bisher scheinbar doch weitgehend heile Welt Schwabens jetzt auch vom Trend der Zeit erfasst?
Zumindest in den Kreisen der Polizei war die Erleichterung über den Ermittlungserfolg nicht zu überhören. Die Arbeit der Fahnder hatte endlich ein Ergebnis gebracht. Sofort aufkommende Fragen nach einem Zusammenhang des geklärten Verbrechens mit dem Verschwinden Alexandras jedoch blieben unbeantwortet, der genaue Tathergang nebulös und verworren.
Vier Wochen nach der Verhaftung des jungen Mannes war dann die die Bombe geplatzt: Alle Beweise gegen ihn hatten sich nicht verifizieren, seine Inhaftierung in keiner Weise begründen lassen. Der 16-Jährige musste freigelassen werden.
Zu der Enttäuschung über das Versagen der Polizei kam die Empörung über die falsche Verhaftung: Mehrere Monate nach dem Verschwinden bzw. dem Tod der Kinder war scheinbar nicht einmal ein Ansatz zur Aufklärung der beiden Fälle zu entdecken. Frustration, Stress und Hektik prägten den Alltag sämtlicher an den Ermittlungen beteiligter Kriminalbeamten.
Mitten in dieser verfahrenen Situation hatten sich heute zwei weitere Kriegsschauplätze ergeben: Hans Breidle, der bekannte Rundfunkmoderator eines Stuttgarter Privatsenders war in den frühen Morgenstunden bei Schwäbisch Gmünd getötet, dann, keine acht Stunden später, Harry Nuhr in Winnendens Fußgängerzone Opfer eines Mordanschlags geworden. Zwei Journalisten an einem Tag, nicht weit voneinander entfernt, ein Zufall?
Steffen Braigs Nerven lagen blank, er fühlte sich überfordert, gereizt und schlecht gelaunt, litt unter Kopfschmerzattacken wie selten zuvor. Muss ich mich bei meinem Zustand wirklich wundern, überlegte er, dass mich eine verunstaltete S-Bahn derart in Rage bringt?
Vielleicht lagen die Ursachen seiner Verstimmung aber auch ganz einfach in der Tatsache begründet, dass er älter wurde, mit Riesenschritten auf die Vierzig zuging, dass es ihm immer schwerer fiel, die Entwicklung dieser Gesellschaft zu begreifen, ja zu sagen zu der Richtung, in die alles lief? Früher – versuchte er sich zu beruhigen – früher hätte er sich über Lappalien dieser Art kaum aufgeregt, sie wahrscheinlich nicht einmal bewusst als Unrecht wahrgenommen.
Aber war das wirklich die korrekte Erklärung für seinen Ärger? Waren sein Verdruss, seine Wut, nicht auch darin begründet, dass die Allgemeinheit sich in den letzten Jahren fast an solch sinnlose Zerstörung gewöhnt hatte? Defekte Telefonzellen, mutwillig außer Kraft gesetzte Fahrkartenautomaten, Schmierereien an Zügen, Bussen, Gebäuden, Unterführungen, Brücken?
Braig blickte sich im Wagen um, erkannte an den Polstern und der gesamten Einrichtung, dass es sich um eine neue, erst vor kurzer Zeit in Betrieb genommene Bahn handelte. Die Sitze waren in dezentem Grau mit grünen Streifen gehalten, die Trennwände aus durchsichtiger Kunststoffverglasung, das gesamte Interieur in unübersehbar gepflegtem Zustand – noch!
Hinter sich, durch den Mittelgang von ihm getrennt, hörte er lautes Lachen, Grölen, dann ein langgezogenes, kräftiges Rülpsen.
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