Schwaben-Herbst
bei uns nicht eingeliefert.« Der leicht überfordert wirkende Mann an der Pforte war nicht vom Gegenteil zu überzeugen. Erst nach mehreren krankenhaus-internen Telefonaten hatten sie erfahren, dass man ihre Mutter angesichts der vermuteten Schwere der Verletzungen direkt nach Stuttgart ins Katharinenhospital gebracht hatte.
Sie dort aufzuspüren war ein fast unmögliches Unterfangen. Fünf Minuten vor neun, sie hatten die halbe Chirurgie durchkämmt und sich von einer betreuenden Schwester zur nächsten weitergefragt, waren sie endlich bei der Ärztin vom Dienst angelangt. Ihr Büro wurde von einem breitschultrigen, mit einem weißen Kittel bekleideten Mann verwaltet.
»Meine Mutter, Johanna Neundorf, wurde heute Morgen bei Ihnen eingeliefert. Sie hatte einen Unfall.«
»Das ist so üblich bei uns«, sagte der Mann. Er schaute mit bleicher Miene zu ihnen auf, wirkte abgearbeitet und erschöpft.
»Wie bitte?«
»Dass Unfallopfer eingeliefert werden. Tote, halbtote und gerade noch lebende. Die Ersten sind uns am liebsten. Da sind die Verhältnisse wenigstens von Anfang an klar, und es gibt auch nicht mehr viel zu tun. Die Arbeit hat sich da sozusagen von selbst erledigt.«
Neundorf starrte den Mann verwundert an, sah seine müden Augen, das bleiche, eingefallene Gesicht. »Na, Sie haben Humor«, sagte sie, »das muss man Ihnen lassen.«
»Humor? Nein.« Der Mann im weißen Kittel schüttelte den Kopf. »Mit Humor hat das nichts zu tun. Das ist unser Alltag hier, nicht mehr und nicht weniger.« Er wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen, griff nach dem Hörer.
»Gleich zwei Schwerstverletzte?«, rief er dann, nachdem er die Meldung angenommen hatte. »Ich verstehe, in jedem Auto einer. Einmal extremer Blutverlust, beim anderen ein abgetrennter Unterschenkel. Ich gebe es durch. In fünf Minuten seid ihr hier, alles klar. Wir freuen uns auf euch.« Er brach das Gespräch ab, zog das Mikrofon zu sich her, informierte die Ärzte. »Und das am Samstagmorgen …«, schimpfte er dann, den Blick vorwurfsvoll auf Neundorf gerichtet, »… Ende September.«
»Ich kann nichts dafür«, verteidigte sie sich.
»Ich weiß. Niemand kann was dafür. Alle sind unschuldig, immer. Das ist ein Naturgesetz. Auf diesem Erdball leben nur Engel.«
»Meine Mutter, Johanna Neundorf«, versuchte sie, abzulenken. »Sie wurde bei Ihnen eingeliefert.«
»Ja ja, Ihre Mutter.« Er wollte etwas hinzufügen, wurde erneut vom Telefon unterbrochen. Die Meldung schien von ähnlichem Inhalt wie die vor wenigen Sekunden, veranlasste ihn zur gleichen Reaktion. »Zwei Opfer«, polterte er, »ja ja, ich verstehe. Schädel-Hirn-Trauma und gebrochene Schulter. Trotz Airbag. Wunderbar. Die Doktores werden sich freuen. In zehn Minuten, alles klar.« Er beendete das Gespräch, gab die Neuigkeit ins Mikrofon weiter, wandte sich dann Neundorf zu. »Ihren Ausweis.«
Sie griff in ihre Tasche, zog die Kennkarte vor.
»Landeskriminalamt Baden-Württemberg.« Der Mann pfiff durch die Lippen. »Und der Herr hier ist der Präsident persönlich.« Er wies auf ihren Begleiter.
»Meine Mutter«, fiel sie ihm ins Wort. »Was ist mit ihr?« Sie hatte genug von seinen hohlen Floskeln, verlangte nach einer Antwort auf ihre Fragen.
Er warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, nahm sich die Tastatur des Computers vor, gab den Namen ihrer Mutter ein. »Neundorf«, sagte er, »wie die Zahl und das Dorf.«
Sie nickte, verfolgte seine Bemühungen. Namen und Anschriften flimmerten dicht gedrängt über den Monitor. Nach wenigen Sekunden schien er am Ziel angelangt.
»Neundorf«, las er ab, »Johanna.«
»Und?«, fragte sie. Im selben Moment läutete ihr Mobiltelefon.
Der Mann hatte bereits zu einer Antwort angesetzt, verstummte noch vor dem ersten Wort. »Nicht bei uns im Krankenhaus«, schleuderte er ihr stattdessen entgegen.
Neundorf winkte ab, zog ihr Handy aus der Tasche, warf einen Blick auf das Display, brachte es dann nach einem weiteren Signalton zum Verstummen. »Was fehlt ihr?«, fragte sie in energischem Ton.
Der Krankenpfleger hatte Mühe, an sich zu halten, starrte wieder auf den Bildschirm. »Ohne Befund«, erklärte er dann.
»Ohne Befund? Das heißt, nichts gebrochen?«
»Ohne Befund«, wiederholte er laut, Wut in der Stimme wie im Blick.
»Wo ist sie jetzt?«
»Entlassen«, erwiderte der Mann, »was denn sonst?«
Sie wandte sich ohne ein weiteres Wort von ihm ab, lief ans andere Ende des Gangs, nahm ihr Handy vor.
»Das Amt?«, fragte
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