Schwaben-Herbst
Weiss.
Sie nickte, gab die entsprechende Nummer ein, hielt es ans Ohr.
»Frau Neundorf?« Weisshaar bestätigte seinen Anruf. »Wir haben einen Toten.«
»Weshalb geht das an mich? Kollege Braig …«
»Im Einsatz. Seit dem frühen Morgen. Tut mir leid.«
Neundorf seufzte laut auf. »Was ist passiert? Ein Unfall?«
»Nein. Ein Mann wurde erschossen.«
»Am Samstag Morgen. Der Tag fängt gut an.«
»Nein. Nicht heute Morgen. Irgendwann in der Nacht, genauere Informationen fehlen.«
»Und weshalb erfahre ich dann jetzt erst davon?«
»Ganz einfach. Der Tote wurde jetzt erst entdeckt.«
»Ah, ja.« Schon wieder einer dieser vereinsamten Singles, überlegte sie. »Wo ist es passiert?«
»In Reutlingen.«
»Das liegt ja direkt vor der Haustür.«
»Tut mir leid. Am Rand der Innenstadt, wenn Ihnen das hilft«, setzte Weisshaar tröstend hinzu. Was soll mir das helfen, brodelte es in ihr. Einen getöteten Menschen begutachten zu müssen, war einer der Tiefpunkte ihrer Profession, ob in der Stadt oder draußen in der Natur.
Da gab es keinen Trost, der in irgendeiner Weise weiterhalf.
5.
Die mit einem roten Anorak und schwarzen Jeans bekleidete Frau war gerade dabei, sich zu verabschieden, als Neundorf das Haus erreichte. Sie schien Mitte Dreißig, hatte ein schmales, jungmädchenhaft wirkendes Gesicht, helle, fast bleiche Haut.
»So, das war es dann«, sagte sie an die Männer gewandt, die den Kopf voran auf dem Boden knieten und sich dort zu schaffen machten, »wenn der untersuchende Kommissar auftaucht – Sie haben meine Handynummer.«
Neundorf blieb unmittelbar vor dem hell erleuchteten Vorraum stehen, starrte auf den toten, im Gesicht, im Brust- und im Unterleibsbereich stark entstellten Körper eines jungen Mannes, fühlte sich von den weit aufgerissenen Augen des Ermordeten seltsam berührt. Obwohl er still und ohne jede Bewegung rücklings auf dem Boden lag, schien er jeden ihrer Schritte unbarmherzig zu taxieren. So viele durch einen natürlichen, vor allem aber auch einen unnatürlichen Tod hingestreckte Menschen sie schon hatte begutachten müssen, die geöffneten Augen der Leiche machten ihr zu schaffen. Ein unangenehmes Kribbeln überzog Schulter und Rücken.
»Da ist ja die Kommissarin«, hörte sie eine bekannte Stimme, »Nun können Sie persönlich mit ihr sprechen.«
Sie riss sich vom Anblick des toten Körpers los, sah Markus Schöfflers freundliches Grüßen. Der Spurensicherer drückte sich vom Boden hoch, robbte zu seinem Kollegen Hutzenlaub, nickte ihr zu.
Sie atmete tief durch, streckte der jungen Frau die Hand entgegen. »Neundorf vom LKA«, stellte sie sich vor, »guten Morgen.«
»Meike Schlögel. Gerichtsmedizin.« Sie hatte eine sanfte, beruhigend wirkende Stimme, die das Grauen der Umgebung eindrucksvoll kontrastierte. »Kein schöner Anblick, wie?«
Neundorf schüttelte den Kopf. »Ist es schon so lange her?«
Die Ärztin verstand sofort, was sie meinte. »Zehn Stunden, mindestens. Ohne Verletzung lassen sie sich nicht mehr schließen.«
So unangenehm es war, sie hatte vollkommen richtig gehandelt. Ein Toter musste in dem Zustand belassen werden, in dem er aufgefunden wurde, jedenfalls, solange die Untersuchung noch nicht abgeschlossen war. Und das war sie ja noch nicht. Sie hatte noch nicht einmal richtig begonnen.
»Zwei Schüsse aus einer Entfernung von weniger als einem Meter«, fuhr Dr. Schlögel unaufgefordert fort, »beide in die Brust, einer davon ins Herz und sofort tödlich. Beide aus der gleichen Position und direkt nacheinander abgefeuert, da sind wir uns einig.« Sie deutete auf die beiden Spurensicherer.
»Und was ist mit seinem Kinn und seiner Hose geschehen?« Neundorf starrte auf den fast vollständig aufgelösten Stoff um die Hüfte des Mannes. »Säure?«
Die Ärztin signalisierte Zustimmung. »Salzsäure, ja. Ihre Kollegen haben die Spuren schon analysiert.«
»Salzsäure ins Gesicht und auf die Hose?«
»Genau das. Und anschließend zwei Kugeln in die Brust.«
»In dieser Reihenfolge?«
»In dieser Reihenfolge, ja. Der medizinische Befund lässt keine anderen Schlüsse zu.«
Die Kommissarin musste schlucken, als ihr klar wurde, was das bedeutete.
»Es sollte weh tun«, sagte Dr. Schlögel, »er sollte vor seinem Tod noch leiden.«
»Vor seinem Tod noch leiden?«
»Haben Sie eine andere Erklärung?«
Neundorf wusste keine Antwort. Nicht so auf die Schnelle. Der Mann hier war nicht einfach ermordet, sondern vorher noch mit einer
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