Schwaben-Wut
eigenen Vater?«
»Wir haben Mist gebaut, grandiosen Mist.«
Braig erhob sich aus seinem Bett, begann im Stehen zu laufen, um seinen Kreislauf in Schwung zu bringen. »Kannst du mir das mal bitte genauer erklären?«, fragte er.
Neundorf antwortete nicht.
»He, bist du noch da?«, rief er ärgerlich, aufgrund seines Trainings schon leicht außer Atem.
»Der Tote ist Stecher«, sagte sie kurz.
Braig hielt mitten in seinen Bewegungen inne, starrte auf den Hörer. »Waaas hast du gesagt?«
Neundorf stöhnte vernehmlich, wiederholte dann ihren letzten Satz. »Der Tote ist Stecher.«
Irgendwas lief falsch, er wusste es. Er starrte auf die Uhr, sah, wie sich der Sekundenzeiger bewegte, hörte die Geräusche von der Straße. »Dir geht es gut, ja?«, fragte er.
»Mir geht es gut, ja«, antwortete sie, »und ich bin weder im Halbschlaf noch betrunken. Aber, lieber Kollege, vor wenigen Minuten wurde mir von Polizeiobermeister Stöhr aus dem Amt mitgeteilt, dass es sich bei der gestern bei Waldenburg aufgefundenen Leiche mit einhundertprozentiger Sicherheit um den vor etwa zehn bis vierzehn Tagen getöteten Andreas Stecher handelt. Schalte das Radio an, sie werden es bald bringen.«
»Aber das kann doch nicht wahr sein!« Braig brüllte ins Telefon, erschrak über den eigenen Tonfall. »Stecher?«
»Er ist es, der Befund ist amtlich. Abgleichung der Zähne, Größe des Skeletts und so weiter, es gibt keinen Zweifel. Du kommst ins Amt? Bis gleich!«
Sie hatte einfach aufgelegt, ihn mit seinem brummenden, völlig wirren Schädel allein zurückgelassen. Braig warf den Hörer zur Seite, taumelte ins Bad. Stecher war tot, seit zehn bis vierzehn Tagen. Seit zehn bis vierzehn Tagen? Er musste erst verdauen, was das bedeutete. Stecher war weder der Mörder von Bartle noch der von Harf. Vielleicht nicht einmal der von Greiling. Seit zwölf Tagen hatten sie ein Phantom verfolgt, die falsche Person gejagt. Stecher lag, während sie die Republik mit tönenden Worten über seine Verbrechen informiert hatten, längst tot im Gebüsch, den äußeren Merkmalen zufolge von derselben Hand hingestreckt wie die übrigen Opfer. Sie hatten zwölf Tage lang Mist gebaut, zwölf Tage, noch dazu unter den Augen der Öffentlichkeit. Was das bei den Medien auslösen, welcher Sturm der Entrüstung bald über sie hereinbrechen würde – Braig wagte nicht daran zu denken.
Als er sich beim Rasieren eine blutende Wunde in die Haut riss – eine besondere Leistung mit seinem elektrischen Apparat – kam er auf die Idee, sich krank zu melden. Das war wahrscheinlich die einzige Methode, die kommenden Tage heil zu überstehen.
40. Kapitel
So viele betretene Gesichter in einem Raum hatte Braig noch nie gesehen. Alle Mitglieder der Sonderkommission waren anwesend, nicht einer fehlte. Die neue Information über die Identität der Leiche hatte in kürzester Zeit die Runde gemacht, das gesamte Amt wusste Bescheid. Selbst der eines Unfalles wegen krank geschriebene Kriminalrat Gübler war bereits informiert, in einem Fax drohte er sein baldiges Erscheinen und die Übernahme der Leitung der Sonderkommission an, um solche Ermittlungspannen in Zukunft zu vermeiden.
Dr. Martin Keil, ein älterer weißhaariger Mann mit einem bulligen Körper und dichten Augenbrauen, hatte die Leiche am frühen Morgen nochmals untersucht. Auch er wollte sich auf das genaue Todesdatum nicht festlegen. »Freitags lebte er noch, da brach er aus dem Gefängnis aus«, betonte er mit einer rauchigen Stimme, wobei sein Gesicht vor Erregung zu glühen schien, »mehr kann ich nicht sagen.«
Neundorf stand nicht weit von dem Pathologen entfernt.
»Hans Greiling wurde am Samstagabend getötet«, sagte sie. »Halten Sie es für möglich, dass Stecher zu diesem Zeitpunkt bereits tot war?«
Im Raum herrschte Totenstille, Alle warteten auf die Worte des Mediziners.
Dr. Martin Keil zögerte nicht lange mit seiner Anwort. »Lassen Sie es mich so formulieren: Genauen Aufschluss darüber werden wir wohl niemals erlangen. Die Leiche lag im Freien, wahrscheinlich unmittelbar seit seinem Tod, es war sehr warm in den letzten Tagen, also schritt der Verwesungsprozess schnell voran. All das ermöglicht uns keine exakten Aussagen. Dennoch glaube ich nicht, dass er nach seinem Ausbruch aus dem Gefängnis noch viel Freude an seiner Freiheit hatte.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Beck.
»Die Verwesung ist so weit fortgeschritten, dass ich für einen möglichst frühen Todeszeitpunkt
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