Schwarz
bemerkte seine Flucht erst, als er schon etwa zehn Meter weit weg war. Das Gebüsch raschelte, und Zweige zerbrachen, während der Junge weiterraste …
Breitbeinig blieb er mitten auf dem Sandweg stehen, fuchtelte mit den Armen und schrie aus vollem Halse. Der UN-Jeep kam mit hoher Geschwindigkeit immer näher, er fuhr direkt auf ihn zu. Die SPLA-Kämpfer standen ein paar Dutzend Meter entfernt, gestikulierten heftig und zeigten in seine Richtung.
Der Geländewagen stoppte genau vor ihm und wirbelte dabei Sand auf, dann stieg ein etwa vierzigjähriger hagerer Asiate aus, dessen dünner Hals den Kragen des hellblauen UN-Hemdes nicht einmal zur Hälfte ausfüllte. Der Junge wusste, dass in dem Jeep eine Waffe lag – zum Schutz gegen wilde Tiere.
»Helfen Sie uns! Kämpfer der SPLA haben uns überfallen … Sie bringen uns um!«, schrie er auf Arabisch, doch der UN-Mitarbeiter schaute mit ängstlicher Miene an ihm vorbei.
Der Junge drehte sich um und sah, wie einer der Soldaten sie heranwinkte und sein riesiges Messer Ibrahim drohend an den Hals drückte. Wollte der Mann von den UN denn nichts tun? Er beschloss, die Waffe selbst aus dem Jeep zu holen, blieb aber wie angewurzelt stehen, als er sah, dass der Soldat mit dem Messer ausholte.
Der Hieb war kräftig, die Klinge drang tief in Ibrahims Hals ein. Der Junge war nicht imstande, die Augen zu schließen. Ibrahim sah verblüfft aus und öffnete den Mund wie ein Fisch, das Blut färbte erst seine Brust, danach den Bauch und schließlich die Oberschenkel. Dann sank der kleine Bruder zu Boden.
Der Junge fiel auf die Knie und übergab sich, obwohl ihm klar war, dass er fliehen und so schnell rennen müsste wie noch nie in seinem Leben. Einer der SPLA-Kämpfer brüllte etwas schon ganz in der Nähe, und da riss der Junge sich hoch. Der Soldat stürmte auf ihn und das UN-Auto zu. Plötzlich sprang der Motor des Geländewagens an. Der Junge starrte in das vor Entsetzen verzerrte Gesicht des Mannes hinter dem Lenkrad. Dann schrie er aus Leibeskräften um Hilfe. Der Feigling wollte fliehen und sie dem Tod überlassen! Er rannte vor den Wagen und drosch wütend auf die Motorhaube ein, aber der UN-Mitarbeiter gab Gas, fuhr an ihm vorbei und hinterließ eine Staubwolke, die jede Sicht verdeckte.
Der Soldat kam näher und war nur noch zwanzig Meter entfernt, als der Junge losrannte. In Richtung Lager brauchte er nicht zu fliehen, die anderen Soldaten würden ihm den Weg versperren. Und im Lager wäre er sowieso nicht sicher, die Kämpfer der SPLA machten auch dort, was sie wollten, und niemand wagte ihre Verbrechen aufzudecken. Immer noch sah er seinen blutüberströmten Bruder vor sich, der Mann von den UN hätte das alles verhindern können, wenn er es gewollt … wenn er den Mut gehabt hätte … Jetzt würde man sie alle umbringen.
Der Junge rannte, was die Beine hergaben, es stach in der Brust, und die Zweige kratzten seine Beine blutig, doch der Abstand wuchs. Er würde ihnen entkommen. Meter um Meter legte der Junge zurück, er sprang über Büsche, wich Ästen aus, kurvte um Bäume …
Dann schoss ein ungeheurer Schmerz durch seinen Knöchel, er stürzte zu Boden und stieß mit der Schulter gegen den Stamm eines Eukalyptusbaums. Sein Fuß war in einer Wurzel hängen geblieben. Der schweißnasse SPLA-Soldat kam näher und mit ihm das Messer und der Tod … Der schmalgesichtige Mann blieb vor ihm stehen, kniete nieder, erhob drohend die Machete und grinste ihn mit seinen gelblichen Zähnen an.
Der Junge hielt den Nagel ganz fest zwischen den Fingern und bereitete sich auf die letzte Anstrengung seines Lebens vor …
ERSTER TEIL
Anschlag aus dem Dunkeln
Khartoum, Sudan, 23. April – 27. April, Gegenwart
1
Donnerstag, 23. April
Auf dem Basar von Omdurman roch es angenehm nach Gewürzen und Kräutern, und es stank nach Schweiß und Dung. Die Händler riefen ihre Ware aus, die Rikschas und Esel schoben sich mühsam durch das Gedränge zwischen den Marktständen und Läden, und die vierzig Grad heiße Luft flimmerte. Beeilen konnte sich in dem Menschenstrom niemand, man kam nicht schneller voran als ein Lastkamel in der Karawane. Auf dem Markt herrschte ein geschäftiges Treiben, alle großen ethnischen Gruppen des Sudan waren vertreten: Araber, Masalit, Dinka, Zaghawa, Fur, Nuba, Tunjur, Meidob, Fellata … Omdurman war das Herz des Sudan. Die sudanesischen Stämme hatten sich im Laufe der Jahrhunderte so miteinander vermischt, dass hier auch die Araber
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