Schwarz
bisschen Kraft gab. Es gingen Gerüchte um, dass manche Lagerbewohner in ihrer Not schon Menschenfleisch gegessen hatten.
»Los, schnell!«, befahl er, aber seine Schwester seufzte nur, und die Mutter warf ihm einen jener sanftmütigen Blicke zu, bei denen er sich vorkam wie ein kleiner Junge. Die Frauen gehorchten ihm nicht so wie Vater, und Vater gab es nicht mehr. Die Kämpfer der SPLA hatten ihn vor ihrem Haus wie einen Hund umgebracht, nur weil er ein Araber war. Er selbst und Ibrahim hatten sich mit den Frauen zusammen im Gebüsch versteckt wie Feiglinge. Im Gegensatz zu Ibrahim vermochte er nicht einmal hinzuschauen und hatte nicht gesehen, was die Männer mit Vater machten. Dieser Anblick war es wohl, der den kleinen Bruder so tief getroffen hatte. »Kümmere dich um Ibrahim, um die ganze Familie«, hatte der Vater gesagt, kurz bevor er den Soldaten in die Hände fiel. Das waren seine letzten Worte gewesen.
Der Junge fluchte, weil die Frauen so langsam waren, und trat mit Ibrahim im Schlepptau aus der Hütte hinaus. Der kleine Bruder folgte ihm überallhin wie ein Schatten. Es war Eile geboten. Die Morgendämmerung währte nur etwa zwanzig Minuten, danach wäre die Sonne aufgegangen, und im nahe gelegenen Wald würde es von Brennholzsammlern wimmeln. Je später sie in den Wald kamen, umso weiter müssten sie sich vom Lager entfernen. Und umso größer wäre die Gefahr, in die sie sich begaben. Sie zählten zur arabischen Minderheit im Lager, die Mehrheit der Flüchtlinge von Itang gehörte zum Stamm der Dinka und der Nuer. Die Araber aus dem Norden und die Christen aus dem Süden führten Krieg gegeneinander, solange er denken konnte. Außerdem war Itang ein Schlupfwinkelder SPLA, der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee, die gegen die arabische Regierung kämpfte. Ein Lagerbewohner hatte sogar behauptet, die Organisation wäre seinerzeit hier gegründet worden. Ihre aus dem Sudan kommenden Kämpfer ließen sich in Itang als Flüchtlinge registrieren, hielten das Lager mit eiserner Hand unter Kontrolle und rekrutierten sehr aggressiv neue Soldaten unter den jungen Männern. Schon Zehntausende Lagerbewohner waren Mitglieder oder Anhänger der SPLA. In der Nähe befand sich sogar ein Ausbildungslager der Organisation.
Deshalb war niemand sicher, der das Lager verließ, am allerwenigsten Frauen. Die Kämpfer der SPLA hatten schon Dutzende Frauen vergewaltigt und auch einige entführt. Aber seine Mutter und Schwester kannten die Kräuter, die im Wald wuchsen; jede Frau aus Doka wusste, wie man in der Natur die verschiedensten Arten von Wildkräutern und Beeren sammelte. Dafür bekam man auf dem Markt ein wenig Geld, und mit dem konnten sie Wasser und Mehl kaufen. Er und Ibrahim würden außerdem zu zweit gar nicht schnell genug so viel Brennholz zusammenbekommen, wie sie brauchten. Und auch Männer waren im Wald nicht sicher, manchmal entführten die SPLA-Kämpfer junge Burschen und zwangen sie, sich ihnen anzuschließen. Arabische Männer wie ihn und Ibrahim erwartete freilich ein noch grausameres Schicksal, wenn sie den Soldaten in die Hände fielen, denn die hätten in den Zeiten des schlimmsten Hungers, so raunte man im Lager, arabische Jungen getötet und verspeist.
Als die beiden Frauen endlich aus der Hütte herausgekrochen kamen, ging der Junge entschlossenen Schrittes los und suchte sich einen Weg durch das Meer von Tausenden Lehmhütten und notdürftigen Unterkünften aus Zweigen und Stofffetzen. Ibrahim folgte ihm wie gewohnt auf den Fersen. Die Behausungen standen fast Wand an Wand, richtige Pfade gab es nicht, also orientierte sich der Junge an den Baumwipfeln, die in der Ferne zu erkennen waren, und steuerte auf den Wald zu. Einige Kinder mit ihren geschwollenen Bäuchen waren schon aus den Hütten herausgekommen, ihr ständiges Geschrei ging ihm auf die Nerven. Allesamt sahen sie schrecklich unterernährt aus. Die im Lager grassierenden fiebrigenErkrankungen, Malaria, Durchfall und Husten verrichteten ihr Werk mit tödlicher Effizienz. Der Junge zuckte zusammen, als er beobachtete, wie ein Käfer in den offenen Mund einer alten Frau krabbelte, die aussah, als würde sie schlafen. Leichen gehörten zum Alltag in Itang genau wie der alles durchdringende Gestank von Fäkalien.
Im nahe gelegenen Dorf des Nuer-Stammes krähte ein Hahn, als sie endlich den Rand des Lagers erreichten. Der Junge hielt inne, spähte in den Wald hinein und war überrascht, weil sich nichts bewegte.
»Bleib in meiner
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