Schwarze Piste
von außen umdrehte. Als er aus der Dusche stieg, musste er feststellen, dass Margit seine Unterwäsche und die Socken mitgenommen hatte. Nur die Stiefel waren noch da. Und so kam es, dass sich Kreuthner ein Badehandtuch um den Leib schlang, hastig seine Stiefel überstreifte und aus dem Badezimmerfenster kletterte. Draußen fand er sich auf einer matschigen Wiese wieder, die von einem Stacheldrahtzaun umgeben war. Nach kurzer Orientierung wusste Kreuthner, wo es zur Straße ging. Allerdings meinte er, im Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Er verharrte einen Augenblick reglos, in der richtigen Vermutung, dass es jetzt besser sei, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Ihm trat der Schweiß auf die Stirn.
Dann hörte er es. Zaghaft zunächst, wie um sich einzustimmen, dann kräftig, unmissverständlich und animalisch: ein Schnauben. Hinter Kreuthner stand Hannibal, einer der besten Zuchtstiere im Landkreis, neunhundertsiebzig Kilogramm fleischgewordene Urgewalt. Man hätte meinen können, das Tier würde sich freuen, dass in sein eintöniges Leben ein wenig Abwechslung geraten war. Aber das lag wohl nicht im Wesen eines Bullen. Nein, Hannibal war ganz und gar nicht erfreut, Kreuthner zu sehen. Solange der sich nicht bewegte, tat auch der Stier nichts. Aber Kreuthner wollte irgendwann heraus aus dieser Stierweide, und zwar möglichst ohne die Hilfe von Margit Unterlechner. Der Plan war nicht so schlecht: Nach einer Minute reglosen Harrens lief Kreuthner auf einmal los wie der Teufel. Das Überraschungsmoment sollte ihm den nötigen Vorsprung verschaffen, um den Zaun vor Hannibal zu erreichen. Das wäre auch gelungen, hätte sich nicht just in dem Moment, als er losrennen wollte, das Badehandtuch von Kreuthners Hüften gelöst und in seinen Beinen verheddert. Der Stier, ohnehin nicht bester Laune, war äußerst erbost darüber, dass Kreuthner ihn hatte übertölpeln wollen. Ohne ins Detail zu gehen, sei so viel gesagt: Die Geschichte hätte schlimmer ausgehen können – aber nicht viel. Die Bilanz waren vier geprellte Rippen, zahlreiche Hautabschürfungen, die sich Kreuthner zuzog, als Hannibal ihn mit den Hörnern quer über die Wiese vor sich herschob, und unzählige kleine Einstiche, die entstanden, als sie schließlich den Stacheldrahtzaun erreichten. Außerdem ein furchterregend großes und ausgesprochen schmerzhaftes Hämatom auf der rechten Gesäßhälfte, das nur deshalb keine scheußliche Fleischwunde geworden war, weil Wolfgang Unterlechner so umsichtig gewesen war, seinem Stier die Hornenden rund zu feilen. Irgendwie schaffte es Kreuthner mit der Kraft der Verzweiflung, auf die andere Seite des Zauns zu gelangen und dabei auch noch das ramponierte Badehandtuch zu retten. Kurz vor acht hatte Kreuthner das erste Mal an diesem Tag Glück: Er begegnete einem blinden Spaziergänger, der mit seinem Hund unterwegs war und sich nicht an Kreuthners Aufmachung störte, sondern ihm bereitwillig einen Anruf mit seinem Handy gestattete.
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5
G uten Morgen«, sagte Kreuthner und betrachtete interessiert das Innere des Wagens. Es enthielt nichts Verdächtiges, soweit Kreuthner sehen konnte. Genauer gesagt: Es enthielt gar nichts. Keine Decke auf der Rückbank, keine Straßenkarte in der Tür, keine Kaugummidose oder Sonnenbrille auf der Mittelkonsole. Nichts. Nur eine voluminöse Handtasche auf dem Beifahrersitz.
»Guten Morgen.« Die schwarzhaarige Frau lächelte Kreuthner bemüht freundlich an, konnte aber nicht verhindern, dass ihr Blick an den großflächigen Hautabschürfungen im Gesicht des Polizisten hängenblieb. Kreuthner ließ eine Pause folgen. Während dieser Pause überlegte die Frau anscheinend, ob sie etwas sagen sollte – »Was kann ich für Sie tun?« oder »Stimmt irgendwas nicht?« Ein Satz dieser Art lag ihr offensichtlich auf der Zunge. Die meisten Menschen hätten etwas gesagt. Natürlich verunsicherte es, wenn ein Polizist neben dem Wagenfenster stand. Genau aus diesem Grund wollten die meisten möglichst schnell wissen, woran sie waren. Diese Frau hingegen fragte nicht. Sie hatte Angst, so schien es Kreuthner, sich verdächtig zu verhalten oder etwas Falsches zu sagen.
»Ich würde gern Ihre Papiere sehen.«
»Ja, natürlich.« Die Antwort kam schnell, eilfertig. Hektisch der Griff zur Handtasche auf dem Beifahrersitz. Sie enthielt allerhand Dinge. Lippenstift, Pfefferminz, Lidschatten, Sonnenbrille, Schlüsselbund. Aber auch eine achtlos in die Tasche gestopfte
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