Schwarze Schiffe - Kommissar Ly ermittelt in Hanoi
Rote Fluss anstieg und über die Ufer trat. Während dieser Krisenzeit waren er und seine Mannschaft 24 Stunden am Tag draußen. Den Rest des Jahres allerdings war er nicht allzu oft auf seiner offiziellen Arbeitsstelle anzutreffen. In dieser Zeit kümmerte er sich mehr um ein Internetcafé und ein Minihotel, die er in der Altstadt betrieb. Der Parteikommissar erhob keinen größeren Einwand, was ab und an die Missgunst einiger Kollegen heraufbeschwor.
Als Einziger der leitenden Kommissare stammte Xuannicht aus Hanoi, sondern, wie sein derber Dialekt sofort verriet, aus der knapp 300 Kilometer südlich von Hanoi gelegenen Provinz Nghe An. Er war verwitwet und hatte einen Sohn, der, soweit Ly wusste, bei den Großeltern auf dem Land lebte.
Ly gegenüber saß Le Duy Ngoc. Er stand seit drei Jahren der Abteilung zur Überprüfung von Moral und Tugend vor, kurz Sittenpolizei. Seine Aufgabe war vor allem die Eindämmung der Prostitution, die illegal, aber weit verbreitet war. Vorher hatte er lange im Süden Vietnams gearbeitet, wo er in eine Sondereinheit im Kampf gegen organisierte Kriminalität eingebunden gewesen war.
Ngoc war ein großer eleganter Mann mit kantigen Gesichtszügen, die Haare immer glatt gegelt. Seine Nase war ungewöhnlich groß für einen Vietnamesen. »Koloniales Erbgut«, sagte Ngoc gerne dazu, nicht ohne einen gewissen Stolz. Ngoc war nur einen Tag älter als Ly und hatte die Anrede »anh«, älterer Bruder, eigentlich nicht verdient. Die beiden kannten sich schon seit ihrer Schulzeit, Freunde waren sie allerdings nie geworden. Zwar war aus dem Raufbold von damals ein Frauenheld und Lebemann geworden, doch das machte es für Ly nicht besser. Umso weniger, als Ngoc vor einem Jahr seine jüngste Schwester Tam geheiratet hatte. Jetzt waren sie auch noch Familie.
Do Van Dang von der Spurensicherung war nicht anwesend, ebenso wenig Dr. Quang, der Chef der Gerichtsmedizin, was Ly bedauerte. Er hatte gehofft, von ihm schon etwas über die Obduktion zu erfahren.
Am Kopf des Tisches saß Bui Van Hung, Lys direkter Vorgesetzter und auch der aller anderen Anwesenden. Erwar ein politisch Konservativer der alten Schule, mit seinen 79 Jahren der älteste Parteikommissar im Präsidium und der einzige Mensch, den Ly kannte, der seine Mitmenschen noch mit »Genosse« ansprach. Er hatte einen fast kränklichen Teint und schütteres graues Haar. Seine Augen verschwammen hinter den dicken Gläsern einer Hornbrille.
Bui Van Hung leitete die Sondersitzung und begann mit einer seiner üblichen Reden: »Marxismus-Leninismus hat für unsere vietnamesische Nation nicht nur im Kampf für die Unabhängigkeit und Freiheit den Weg geebnet, sondern auch für den Aufbau des Sozialismus, der Modernisierung und der Industrialisierung. Die Errungenschaften von Doi Moi beweisen den Wert und die Lebendigkeit des Marxismus-Leninismus …« Ly schielte alle paar Minuten auf die Uhr. Er hatte das Gefühl zu ersticken. Er hatte wirklich Besseres zu tun, als sich diese leeren Floskeln anzuhören. Auch die anderen rutschten auf ihren unbequemen Stühlen hin und her. Während der Parteikommissar monologisierte, ging eine interne Arbeitsanweisung herum. »Um das neue moderne Image Vietnams zu verkörpern und das Vertrauen der Bevölkerung zu stärken, müssen alle Polizeibeamten sich besser kleiden und besser benehmen. Sie müssen saubere Uniformen tragen und keine Sonnenbrillen …« Schwachsinn, dachte Ly. Das Misstrauen der Bevölkerung hatte doch nichts mit so schlichten Äußerlichkeiten zu tun.
Der Parteikommissar kam nun zum eigentlichen Thema. Es ging um die Kampagne für Ruhe und Ordnung. Ly merkte, wie Wut in ihm hochstieg. Der Mord würde wieder ganz zum Schluss angesprochen werden. Was warschon ein totes Mädchen gegen den neuen Glanz der Hauptstadt? Seit einiger Zeit propagierten die Stadtväter ein zivilisiertes urbanes Hanoi. Handwerker sollten nicht mehr auf dem Gehweg arbeiten dürfen, Garküchen sich nicht im Freien ausbreiten. Die Leute sollten ihre Nudelsuppe gefälligst drinnen schlürfen. Und die fliegenden Händler konnten schauen, wo sie blieben. Sie durften keinesfalls das schöne Aussehen der Stadt und den Verkehr stören. Ly konnte sich ein Hanoi ohne das pulsierende Straßenleben nicht vorstellen. Die Stadt wäre dann nicht mehr als ein steriles Singapur. Oder es wäre wieder so wie zu Zeiten vor Doi Moi , als die Privatwirtschaft verboten war. Doch dahin wollte ja wohl niemand zurück.
»Ihre Aufgabe,
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