Schwarze Stunde
know him so well« gehört zu meinen Lieblingssongs, auch wenn es eine ganz andere Musikrichtung ist als Black Hour und die anderen Rockbands, auf die ich so stehe. Musicals mag ich, und in dieses Stück, das ebenfalls von den beiden ABBA-Komponisten Andersson/Ulvaeus stammt, könnte ich noch einmal alle meine Gefühle legen, meine Liebe zu Corvin, es passt so gut zu unserer Situation, wie sie jetzt ist …
No one in your life is with you constantly,
No one is completely on your side,
And though I’d move my world to be with him,
Still the gap between us is too wide …
Ich würde versuchen, Corvin mit meinem Gesang zu zeigen, wie leid mir alles tut, und dass ich nicht gewollt habe, dass es so mit uns endet. Ob ich eine gute Stimme habe, weiß ich nicht, aber im Flugzeug war Corvin sich da ganz sicher. Wer beim Sprechen angenehm klingt, kann auch singen; so oder ähnlich waren seine Worte. Aber ich kann mich nicht melden. Corvin sieht durch mich hindurch wie durch eine störende Milchglaswand, hinter der er etwas ganz anderes zu erkennen versucht, und was noch schwerer wiegt: Die eine Person, der es nicht genügt, dass ich mich von Corvin losgesagt und wieder Manuel zugewandt habe, die spürt, dass alles nur äußerlich stattfindet, in mir aber die Liebe zu Corvin weiter brennt, wird keine Ruhe geben, erst recht nicht, wenn ich für ihn singe. Ich würde Benzin in die Flammen meines unbekannten Feindes gießen und selbst darin verbrennen. Also lasse ich meinen Arm unten.
Manuel meldet sich.
»Ich schlage meine Freundin vor«, sagt er, ohne dass Corvin ihn aufgerufen hätte. »Valerie ist eine Top-Sängerin und schön noch dazu, die muss unbedingt auf die Bühne.«
»Nicht«, zische ich ihm zu. Natürlich sitzt er neben mir, wie immer, nur bei Frau Bollmann als unserer Tutorin haben wir feste Plätze.
»Das wäre eine Möglichkeit«, bestätigt Corvin knapp. »Sonst noch Freiwillige? Yuki? Yvonne? Trauen Sie sich, wir sind ja unter uns, ich helfe Ihnen auch, bis alles richtig sitzt. Mal sehen, was sich aus Ihren Stimmen so herauskitzeln lässt, darauf bin ich richtig neugierig.«
Niemand meldet sich. Es wird sehr still im Raum. Die Sekunden schleichen dahin.
»Also gut«, seufzt Corvin schließlich. »Dann Valerie.« Jetzt sieht er mich doch an, es geht nicht anders. »Dann kommen Sie beide nach vorn, ich habe die Texte und ein Playback dabei. Legen wir gleich los.«
»Können wir nicht erst mal Eagle singen?«, fragt irgendjemand aus einer der hinteren Reihen. »Sonst sitzen wir anderen nur rum.«
Corvin nickt und verteilt die Songsheets, dann greift er nach seiner Gitarre. Schon der erste Akkord von Eagle lässt eine Gänsehaut über meinen Körper rieseln, und als wir anfangen zu singen, ist sofort wieder dieses Gefühl da, fliegen zu können, auf dem Wind zu reiten wie der Adler in diesem Songtext. Corvins Gitarrenspiel und unser Chorgesang tragen mich fort, lassen mich schweben und für ein paar Minuten beinahe vergessen, was mich belastet. Das zerstückelte blutige Fleisch in meinen Sportsachen, den Brief dazu. Den Verlust von Corvins Liebe. Mein Gefühl des Gefangenseins. Meine Angst vor der Person, die mir weiter nachstellt. Ganz von selbst teilt sich der Kurs in zwei Gruppen auf, in die hohen und die tieferen Stimmen, und versucht, den Wechselgesang im Refrain hinzubekommen, es klappt noch nicht ganz, aber Corvin unterstützt den männlichen Part. Kein Lied weckt wie dieses in mir Bilder von einem Gleitflug über farbige Landschaften, Flügel an Flügel, ohne Ziel und vor allem ohne Zwänge, einfach frei sein und doch zusammengehören, sich nach einem langen Tag irgendwo niederlassen und die Nacht zusammen verbringen, bis es am nächsten Morgen weitergeht. Durch meinen ganzen Körper strömt dieses Gefühl, zum ersten Mal seit Ewigkeiten spüre ich so etwas wie Losgelöstheit.
Es tut so gut, endlich wieder mit Corvin zu singen, ich denke an nichts mehr, denke nicht nach, und jetzt sieht er mich doch an, für einen kaum wahrnehmbaren Augenblick treffen sich unsere Blicke und ich weiß, er spürt es auch; in ihm breitet sich dasselbe Gefühl aus wie in mir. Wir können es nicht halten, aber es ist da, auch wenn es verschwunden sein wird, sobald der letzte Ton verklungen ist.
There’s no limit to what I feel
we climb higher and higher
am I dreaming or is it all real?
Nach dem Lied lehnt Corvin seine Gitarre an die Wand, stellt seinen Gesichtsausdruck wieder auf sachlich, geht hinüber zur
Weitere Kostenlose Bücher