Schwarze Stunde
es hochhebe, bemerke ich, dass ein Zettel herausragt. Ich rolle das Handtuch auf. Ausgeschnittene, aneinander geklebte Buchstaben.
Denk nur nicht, es sei alles in Ordnung , steht darauf. Deine schwarze Stunde ist noch nicht gekommen.
Ich reiße die Tasche hoch, wühle im Putzschrank meiner Mutter nach einer großen Plastiktüte und stopfe alles hinein, fahre mit dem Fahrstuhl in den Keller und lege dort alles in die Mülltonne, die ganze Zeit zitternd vor Angst, der Absender könnte noch in der Nähe sein. Dann jage ich die Treppe wieder hoch, stürze in die Wohnung und bleibe völlig außer Atem hinter der Tür stehen. Es geht weiter, schießt es mir immer wieder durch den Kopf. Einer verfolgt mich noch. Der ganze Albtraum geht weiter und offenbar schlimmer als je zuvor.
23.
A m Montag in der Schule sehe ich sofort, dass Corvin Bescheid weiß. Irgendjemand hat ihm gesteckt, dass ich mit Manuel geschlafen habe. Noch mehr als vor meinem Geburtstag blickt er im Unterricht an mir vorbei, wenn er zu uns spricht, er ruft mich kein einziges Mal auf, wenn ich mich melde, und als er einmal nicht mehr umhin kommt, weil niemand außer mir auf seine Frage den Finger hebt, und ich meine Meinung über die Fabel von James Thurber, die wir gerade gelesen haben, kundtue, kommentiert er mich nur mit einem knappen »Well, I don’t quite agree with you; anybody else who would like to discuss what that lady said?« Es tut so weh.
In den nächsten Tagen und Wochen geht es so weiter. In den Pausen verlässt er angeregt mit Frau Bollmann plaudernd den Kursraum, und als er Hofaufsicht hat, sehe ich ihn mit drei anderen Schülerinnen aus unserem Jahrgang lachen und scherzen. Ich sehne mich danach, ihm alles zu erklären, aber er weicht mir aus. Zudem kommt Manuel in jeder Pause auf mich zu und legt seinen Arm um mich, um mich nicht mehr loszulassen, bis es zur nächsten Stunde klingelt. Ich lasse es geschehen, weil mir die Sache mit der Sporttasche noch in den Knochen steckt; an Manuels Seite fühle ich mich sicher. Wir schlendern über den Schulhof und durch die Gänge, er führt mich zu seinen Kumpels und präsentiert mich wie einen Hauptgewinn, und ich wehre mich nicht. Die Jungs nicken mir zu, alles andere überlassen sie Manuel; die Mädchen tun wieder so, als wären sie meine Freundinnen, sprechen mich wegen Partner- und Gruppenarbeiten an, beziehen mich ein in ihre munteren, oberflächlichen Pausenunterhaltungen über Jungs, Schönheitstipps und Freizeitaktivitäten. Nachmittags oder abends werde ich angerufen und abgeholt, wenn es zu mehreren in die Stadt geht, wir gehen Shoppen, in gemütliche Cafés und in verschiedene Clubs. Niemand fragt mich jemals nach Corvin, ich bin wieder das Mädchen an Manuels Seite, kein »Lehrerliebchen« mehr. In ihrer Welt ist alles wieder an den richtigen Platz gerückt, und ich spiele das Spiel mit, setze eine Maske auf und wage nicht, aus der Reihe zu tanzen, weil ich weiß, dass einer von ihnen mir weiter nachstellt. Es ist noch nicht vorbei, jede Sekunde erlebe ich, wie wenn ein Nerv in mir bloßläge, kann mich niemandem anvertrauen, weil jeder von ihnen es sein könnte, in ständiger Angst vor der nächsten Attacke schleiche ich an Manuels Seite durch mein Leben. Lange Zeit jedoch geschieht nichts.
Kurz vor unserer Englandfahrt verkündet Corvin im Musikunterricht, er habe vor, sich mit uns am diesjährigen Musikabend zu beteiligen.
»Sie sind meine besten Sänger«, schmeichelt er uns. »Wir haben so viel miteinander zur Gitarre gesungen, dass ich finde, wir können ruhig etwas davon auf der Bühne zeigen, damit nicht nur die Siebtklässler mit ihren Orff-Instrumenten das Programm gestalten. Ich schlage vor, wir singen alle gemeinsam Eagle von ABBA, und dann hätte ich gern noch zwei Mädchen für ein Duett. Hat da jemand einen Vorschlag?«
Fiona meldet sich prompt. So prompt, dass man fast glauben könnte, sie hätte alles schon vorher mit ihm abgesprochen. Auch Carlas Arm zuckt, doch als einige Jungs prusten, lässt sie ihn wieder sinken.
»Bitte, Fiona?«, sagt Corvin.
»Ich finde I know him so well aus dem Musical Chess sehr schön«, sagt sie. »Kennen Sie das?«
»Gute Idee.« Corvin nickt. »Ich nehme an, Sie möchten dann auch eine der beiden Stimmen übernehmen?«
Fiona nickt und strahlt ihn an.
»Gut. Dann brauchen wir nur noch die zweite Stimme. Wer möchte?« Er blickt in die Runde, streift auch mich kurz, lässt seinen Blick weiterwandern. Ich würde so gern; »I
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