Schwarze Stunde
welchem Krankenhaus Manuel liegt. Von mir aus können wir ihn zusammen besuchen.«
5.
A us meinem Kleiderschrank wähle ich einen luftigen türkisfarbenen Rock und ein ärmelloses weißes Baumwolltop dazu und stecke meine Haare hoch, um nicht darunter zu schwitzen. Jetzt tut es mir doch gut, frische Sachen anzuhaben. Auch Alena trägt heute ein Sommerkleid mit schmalen Trägern und kurzem Rock.
Die Stimmung beim Essen ist merkwürdig; Mama fragt mich weder nach dem Konzert noch nach der Atmosphäre dort, versucht nicht, nachzuempfinden, was mir daran so wichtig war, dass ich mein ganzes Geld für diese Kurzreise ausgegeben habe. Sie will nur Belanglosigkeiten wissen, erkundigt sich nach der Jugendherberge und dem Flug, fragt, ob ich am Gate lange warten musste und ob es in England nicht geregnet habe. Anders als sonst bin ich ihr dieses Mal fast dankbar dafür, die Oberflächlichkeit des Gesprächs verschafft mir noch etwas Raum, die beiden Stunden mit Corvin weiter zu verarbeiten, mich innerlich davon zu lösen, Abstand zu gewinnen. Im Gegensatz zu Alena bedrängt sie mich nicht. Noch immer habe ich das Gefühl, jeder könne mir im Gesicht, vielleicht am Glanz meiner Augen ansehen, dass ich etwas erlebt habe, was noch in mir nachwirkt, mich noch immer als süßes, schmerzendes Ziehen in meiner Brust begleitet, doch weder meine Mutter noch Alena scheinen zu bemerken, wie aufgewühlt ich bin, zu beschäftigt ist jede mit ihren eigenen Gedanken, Mama mit ihrer Arbeit und den Plänen für das Wochenende, Alena mit ihrer Sorge um Manuel, die sie nun erneut äußert. Nicht jetzt, beschwöre ich sie stumm mit einem eindringlichen Blick. Alena jedoch scheint ihn nicht zu bemerken oder ignoriert ihn bewusst. Erzählt auch Mama von seinem Fiasko im Freibad.
»Er scheint völlig fertig zu sein«, sagt sie. »Auf Partys trinkt Manuel nie besonders viel.«
»Keine gute Methode, um ein Mädchen zurückgewinnen zu wollen«, erwidert meine Mutter und füllt Kartoffeln auf Alenas Teller. »Er will Valerie ein schlechtes Gewissen machen. So einer passt nicht zu ihr, das wäre auf die Dauer nicht gut gegangen. Beide sollten sich erst mal lieber auf die Schule konzentrieren. In der zwölften Klasse geht es schließlich ein bisschen um was.«
Alena und ich tauschen Blicke. Mir widerstrebt der etwas abfällige Ton, in dem Mama über Manuel spricht. Immerhin bin ich in den ersten Wochen unserer Beziehung in ihn verknallt gewesen, zumindest ein wenig, habe Manuel damals als einen Beschützertyp angesehen, die breite Schulter zum Anlehnen, groß, gut aussehend, selbstbewusst auf den ersten Blick. Einmal, als wir zu mehreren aus der Klasse unterwegs waren, hatte er mich in der S-Bahn vor einer blöden Anmache bewahrt, indem er sich rasch als mein Freund ausgegeben und Besitz ergreifend den Arm um mich gelegt hatte. Später gestand er mir, dass er schon lange in mich verliebt wäre, und hat mich einfach geküsst; irgendwie hatte es mir an dem Abend gefallen, dass er so unbefangen zeigte, was er für mich empfand; auch dass er mich später mit seinem Motorrad nach Hause fuhr, fand ich schön. Damals ahnte ich nicht, dass genau das, was mich am Anfang so anzog, mich später von ihm forttreiben würde. Ich war solo und hatte nichts zu verlieren. Manuel war mein erster Freund, und vielleicht hat mich die ungewohnte körperliche Nähe zu einem Jungen mehr fasziniert, als Manuel selbst. Viele Mädchen haben mich um ihn beneidet. Deshalb nahm es auch kaum jemand ernst, als ich nach einigen Wochen hin und wieder andeutete, es sei nicht alles immer nur sonnig zwischen uns. Wenn ich wirklich mal ausnahmsweise ohne ihn unterwegs war, rief er mich jede Stunde auf dem Handy an. Waren wir zusammen in einem Club, durfte ich nur mit ihm tanzen, sonst machte er mir vor allen Leuten eine lautstarke Szene. Und immer, immer seine Hände auf mir, oft habe ich mich dabei ertappt, dass ich ihm ausgewichen bin, wenn er mich umarmen oder küssen wollte, weil ich das Gefühl hatte, er schnürte mir die Luft ab und würde mich am liebsten an sich ketten.
Zum Glück lenkt meine Mutter das Gespräch zurück auf unkompliziertere Dinge; fragt, wie Alenas Urlaub war, leitet über zum bevorstehenden neuen Schuljahr und dem Abitur. Bereitwillig lassen wir uns darauf ein; wir beide spüren, dass wir Mama in unser Gespräch unter Freundinnen, die sich gerade etwas uneinig sind, nicht einbeziehen können. Aber auch, nachdem sie zurück zur Arbeit gegangen ist und wir die
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