Schwarzer, Alice
(50 Prozent) bzw.
»eher nicht« oder »gar nicht« gläubig (14 Prozent). Es ist also falsch,
Menschen muslimischer Herkunft zwangsläufig als »Muslime« zu definieren oder
ihnen gar zu unterstellen, sie seien orthodox gläubig.
Auffallend ist: Knapp jeder zweite muslimische Mann geht
»manchmal« oder »häufig« in die Moschee - aber nur jede vierte Frau. Da
überrascht nicht, dass sieben von zehn Frauen muslimischer Herkunft noch nie
ein Kopftuch getragen haben. Und sehr interessant ist, dass selbst von den
Musliminnen, die sich als »stark gläubig« bezeichnen, nur jede Zweite
»manchmal« oder »immer« ein Kopftuch trägt. Was im Gegensatz steht zu der Behauptung
islamischer Funktionäre, für die Muslimin sei Religiosität zwangsläufig mit
dem Tragen eines Kopftuches verbunden. Übrigens: Die zweite Generation der
Migrantinnen verbirgt etwas seltener ihr Haar als die erste.
So also sieht die Lebensrealität der Mädchen und Frauen
muslimischer Herkunft aus, gläubig oder nicht gläubig. Gleichzeitig aber
herrscht in der Öffentlichkeit der Eindruck: Wer muslimischer Herkunft ist,
sei automatisch auch religiös; und wer religiös sei, müsse sich zwingend an
gewisse »Gebote« des Korans halten, wie Fastenzeit oder Kopftuch. Dieser
Eindruck ist falsch. Denn er basiert nicht auf der Realität der in Deutschland
lebenden Migrantinnen und ihrer Kinder und Enkelkinder, sondern auf der
Ideologie rühriger Islamverbände.
Diese Islamverbände - von der staatlichen türkischen Ditib
bis zu der vom Verfassungsschutz schon lange beobachteten Milli Görüs - stehen
jedoch nicht für die Mehrheit der Musliminnen, sondern für eine Minderheit. Nur
die Hälfte der in Deutschland lebenden Musliminnen hat laut Studie überhaupt
schon mal von einem oder auch zwei dieser Verbände gehört, nur knapp jeder
Fünfte ist in einem organisiert.
Bedenkt man, dass diese Verbände bisher den »Dialog« mit
Politik, Kirchen und Medien quasi allein bestimmt haben, wird klar, wie
unzureichend, ja irreführend dieser vermeintliche Dialog sein muss. Bisher
kaum wahrgenommen und schon gar nicht berücksichtigt wurden die Interessen der
80 Prozent, die in keinem dieser Verbände und häufig auch gar nicht oder nur
moderat gläubig sind - und von denen selbst die Hälfte der »sehr gläubigen«
Frauen kein Kopftuch trägt.
Das wirft ein ganz neues Licht auf die Integrationsdebatte.
Mehr noch: Es ist alarmierend, dass eine solche Minderheit in Bezug auf das
»Muslimische Leben in Deutschland« (so der Titel der ministeriellen Studie)
bisher den Ton angeben und behaupten konnte, für alle zu sprechen.
Diese Islamverbände, die von moderat bis
fundamentalistisch gestimmt sind - und aus Mitgliederbeiträgen, von der Türkei
oder gar von Saudi-Arabien finanziert werden -, erheben immer wieder den
Vorwurf der »mangelnden Toleranz« der deutschen Mehrheitsgesellschaft und der
Ignoranz »muslimischer Glaubensfragen« inklusive seiner »religiösen Gebote«.
Dass diese angeblichen »Gebote« in der Lebensrealität von Menschen mit muslimischem
Hintergrund eine so unterschiedliche Rolle spielen können wie bei Menschen mit
christlichem Hintergrund, wird dabei nicht gesagt.
Auch die Menschen aus dem christlichen Kulturkreis sind ja
keineswegs alle gläubig und auch ihre Ansichten reichen von liberal bis
fundamentalistisch. Auch sie würden es sich verbitten, von Menschen anderer
Kulturkreise in erster Linie als »Christen« definiert zu werden. Allerdings
fällt auf, dass die Politik in Deutschland auch hier bei Fragen, die den
Kirchen wichtig sind, weniger mit den betroffenen Menschen spricht und eher mit
den Kirchenvertretern.
Zum Beispiel beim Abtreibungsverbot, das die Kirchen in
Deutschland gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung und gegen die
Lebensrealität der Frauen immer wieder durchsetzten.
So hatte die Politik die 2009 verabschiedete Verschärfung
der Abtreibungen ab der 13. Woche zuvörderst mit den Bischöfen verhandelt und
nicht mit Frauenberatungsstellen, ProFamilia oder Ärztinnen.
Oft haben diese christlichen Vertreter durchaus ähnliche
Interessen wie die islamischen Verbände: nämlich die Durchsetzung der
Vorrangigkeit von Glaubensfragen vor Menschenrechtsfragen, nicht nur in
Gottesstaaten, sondern auch in Demokratien. So wie bei den Vertretern Jesu die
Abtreibung steht bei den Vertretern Mohammeds das Kopftuch im Fokus.
Das war nicht immer so. Erst seit dem Sieg des iranischen
Gottesstaates im Jahr 1979 ist das
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