Schwarzer Neckar
einen Moment den gesamten Raum. So nah, so intensiv hatte Treidler es noch nie gehört. Ein paar Atemzüge sog Amstetter das Gas ein, dann drehte er das Ventil wieder ab.
Plötzlich sah Treidler den Draht in Amstetters linker Faust. Er hatte nicht bemerkt, wie er dorthin gekommen war. »Achtung, Melchior! Seine Hände!«, schrie er.
Amstetter Arme schnellten nach vorne. Blitzartig entrollte er den Draht zu einer Schlaufe, hielt beide Enden fest und ließ ihn vor seinem Gesicht durch die Luft kreisen. Obwohl das surrende Geräusch vorhin schon in seinem Kopf hallte, klang es jetzt, als Treidler es tatsächlich hörte, noch unheimlicher. Ein Draht wie dieser musste die Mordwaffe gewesen sein.
»Warum sind Sie so böse?«, drang eine unnatürlich hohe und piepsige Stimme aus Amstetters Mund. Die Wut auf Melchior hatte sein Gesicht zu einer Fratze verzerrt. Die schwarzen Augen traten hervor, und seine Muskeln schienen sich zu verkrampfen. Mit dem rotierenden Draht zwischen den Händen ging er einen Schritt auf Melchior zu. »Sie hätten sie nie erschießen dürfen. Dafür werde ich Sie töten.«
»Bleiben Sie stehen! Sofort!«, schrie Melchior.
Als ob er nicht verstehen wollte, ging Amstetter weiter auf sie zu. Der Draht zwischen seinen Händen surrte kaum zwei Meter vor ihrem Gesicht durch die Luft. In dieser unheimlichen Situation, fern jeder Logik, erreichte der Ton eine absonderliche Intensität. Wären Treidlers Hände nicht gefesselt gewesen, er hätte sich damit die Ohren zugehalten.
Wieder bellte Melchiors Waffe auf. Treidler fuhr zusammen. Der Knall erfüllte den ganzen Raum. Für einen Moment schien alles stillzustehen. Wie durch einen Schleier sah er Amstetter im Spiegel. Der dürre Körper in der weißen Kutte zuckte unnatürlich, sank in sich zusammen und ging mit einem unterdrückten Schrei zu Boden. Melchior hatte tatsächlich auf ihn geschossen.
Als ob ihn schon jemand von den Fesseln befreit hätte, atmete Treidler erleichtert aus. Er suchte ihren Blick im Spiegel, fand ihn und keuchte: »Was ist? Machen Sie mich jetzt los?«
Sie nickte ihm kurz zu. Dann, von einem Moment auf den anderen, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Ihre dunklen Augen weiteten sich vor Schreck.
Jäh verschwamm Treidlers Sichtfeld und klärte sich nach mehrmaligem Blinzeln. Er benötigte einen weiteren Atemzug, um zu realisieren, was sich im Spiegel abspielte: Amstetter hatte sich aufgerafft und ging weiter auf Melchior zu, als ob nichts geschehen wäre. Das surrende Geräusch ertönte erneut, und Amstetters heliumgeschwängerte Stimme piepste: »Keine Angst, es wird nicht wehtun …«
Abermals blitzte Mündungsfeuer auf, ein Schuss explodierte, und Amstetters Schulter wurde herumgerissen. Er schrie auf. Doch der Wahnsinn musste die Kontrolle über sein Denken und Handeln übernommen haben, denn die Wirkung des Treffers währte nur kurz. Er wandte sich erneut zu Melchior. Das Surren des Drahtseils verstummte schlagartig, und mit einem Satz sprang er auf sie zu. Als von Amstetter nur noch ein Teil im Spiegel zu sehen war, wusste Treidler, dass für einen weiteren Schuss keine Zeit mehr blieb. Gleich darauf vernahm er das Poltern ihrer Waffe am Boden, und ein eigenartiges Keuchen erklang hinter ihm.
Das Letzte, was Treidler im Spiegel erkennen konnte, war die riesige Schlaufe, die wie ein Lasso durch die Luft wirbelte. Mit beiden Händen versuchte Melchior, den Draht von ihrem Hals fernzuhalten.
»Treidler«, schrie sie. Es folgte ein gurgelnder Laut, als ob ihr etwas die Luft abschnürte. Dann verschwand auch sie aus seinem Blickfeld.
Treidler wollte aufstehen, sich losreißen. Doch wie ein stumpfes Messer schnitt das Metall in seinen Hals. Egal, er musste ihr helfen. Amstetter würde keine Mühe haben, die schmächtige Frau innerhalb kürzester Zeit zu erdrosseln.
»Treidler«, würgte Melchior hervor. Ihre Worte glichen mehr einem Röcheln, das sie in Stößen von sich gab.
Treidler spannte seine Muskeln und drückte sich mit aller Kraft vom Sessel hoch. Wider Erwarten zog sich der Metalldraht um seinen Hals nicht weiter zu. Doch schon beim ersten Schritt fiel er nach vorne und sah die Wand auf sich zukommen. Im letzten Moment konnte er die gefesselten Hände hochreißen und sein Gesicht schützen. Mit Ellenbogen und Handballen traf er auf den Spiegel. Das Geräusch des zerbrechenden Glases nahm ihn vollkommen ein.
Er blieb regungslos liegen und starrte auf die Blutlache, in der Dutzende Splitter funkelten.
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