Schwarzer Neckar
entlang, an einer weit geöffneten Wohnungstür vorbei und hastete die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Die Tür zu Amstetters Wohnung war nur angelehnt. Aus dem Inneren drang leise Rockmusik an ihr Ohr. Melchior klingelte und wartete kurz, bis sie eintrat.
»Treidler«, rief sie und lauschte.
Niemand antwortete.
»Treidler, sind Sie hier?« Sie ging auf das erleuchtete Zimmer am Ende des Flurs zu. Von dort kam auch die Musik. Doch irgendetwas stimmte nicht. Warum antwortete niemand auf ihr Rufen? Sie verlangsamte ihren Schritt. »Verflucht noch mal, ist überhaupt jemand hier?«, stieß sie aus und zog die Waffe.
Keine Antwort.
An der Türschwelle hielt sie inne, schob ihren Kopf nach vorne und spähte in den Raum: Regale, Bücher, Polstermöbel – nichts Bedrohliches. Die gewöhnliche Zimmereinrichtung in Verbindung mit der Musik beruhigte ihren Pulsschlag. Sie steckte die Pistole weg und trat in den Raum. In der Küche standen zwei angetrunkene Bierflaschen, eine davon halb voll. Auf dem Esszimmertisch surrten leise zwei Computer. Schon wollte sie sich mit einem der Rechner näher beschäftigen, als sie über einer Stuhllehne Treidlers dunklen Wollmantel entdeckte. Im ersten Augenblick wusste sie nicht, ob sie erleichtert darüber sein sollte oder nicht. Treidler war hier. Sie musste ihn nur noch finden.
Melchior verließ die Wohnung wieder. Sie klingelte und klopfte an der gegenüberliegenden Tür. »Kriminalpolizei Rottweil. Machen Sie auf.«
Sekunden später drang aus dem Inneren ein sonderbares quietschendes Geräusch. Es dauerte einige Zeit, bis sich die Tür zuerst einen Spalt und dann ganz öffnete. Ein lang gezogenes Ächzen drang aus dem leeren Flur. Schließlich schob sich aus dem Halbdunkel ein Rollstuhl in den Türrahmen. Darauf saß ein älterer Mann mit schneeweißen Haaren. Sein wirrer Bart überzog einen großen Teil des faltigen Gesichts. Mit bleichen Augen blickte er Melchior von unten herauf an und rief ihr mit dröhnender Stimme entgegen: »Ja?«
»Mein Name ist Carina Melchior. Ich bin von der Kriminalpolizei Rottweil. Wissen Sie, wo sich der Herr Amstetter von gegenüber aufhält?«
»Bitte?« Der Alte schrie jetzt fast.
»Wo ist der Herr Amstetter?«, wiederholte Melchior lauter und schneller.
Immer noch schien er nicht verstanden zu haben. Statt einer Antwort lächelte der Mann und entblößte dabei seinen zahnlosen Mund. Schließlich fragte er, jetzt wieder in gemäßigter Lautstärke: »Waren Sie das, die vorhin bei mir geklingelt hat?«
»Ja.« Melchior nickte und versuchte, dabei so ruhig wie möglich zu bleiben.
»Ah …«
»Was ist jetzt? Wissen Sie, wo der Herr Amstetter von gegenüber ist?«
Melchior konnte erkennen, wie es hinter der zerfurchten Stirn zu arbeiten begann. Offensichtlich war die Frage endlich bei ihm angekommen. Doch der Mann schüttelte den Kopf und lächelte abermals.
Sie hob die Augenbrauen. »Wer wohnt sonst noch hier im Haus?«, fragte sie.
»Wissen Sie«, sagte der Alte. »Ich höre schlecht und komme nur noch selten aus meiner Wohnung.«
Melchior wiederholte jedes Wort ihrer Frage einzeln und laut: »Wer … wohnt … sonst … noch … hier … im … Haus?«
»Ah …« Der Alte hob das Kinn, um zu signalisieren, dass er verstanden hatte. »Im oberen Stock wohnen zwei junge Paare. Die machen manchmal Krach, wenn sie abends heimkommen. Aber meistens höre ich sie nicht. Ich lege mich früh schlafen. Dann da drüben der nette Herr Amstetter.« Er lächelte kurz. »Er grüßt immer, sobald er mich sieht. Unten wohnt noch die Frau Holzmann.« Sein Gesicht verdüsterte sich etwas. »Aber die hab ich schon lange nicht mehr gesehen. Und die Wohnung daneben …« Er zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht. Ich komm selten hier raus. Das letzte Mal, als ich im Sommer unten war, hat sie leer gestanden.«
Das flackernde Licht in der Wohnung im Erdgeschoss. Die offen stehende Tür. Vorhin hatte sie sich nichts dabei gedacht. Langsam und deutlich formulierte sie ihre Frage: »Die … leere … Wohnung … auf … welcher … Seite … liegt … die?«
»Rechts unten, wenn Sie zur Haustür hereinkommen«, sagte der Alte schnell.
Das passte nicht. Es war die Tür auf der linken Seite, die vorhin offen gestanden hatte. Auch das Kerzenlicht kam aus einem Fenster links des Hauseinganges. Schnell bedankte sie sich bei dem alten Mann im Rollstuhl und machte sich auf den Weg die Treppe hinunter. Auf der letzten Stufe hielt sie für einen Moment inne.
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