Schwarzer Neckar
unter seine Mütze und kratzte sich an der Stirn. »Meinst du allen Ernstes, dass wir es mit einem Auftragsmord zu tun haben?« Zum ersten Mal schaute er Amstetter in die Augen.
Der nickte automatisch, wirkte aber nicht mehr so sicher.
Ein bezahlter Mörder hier in Florheim? Treidler wollte überhaupt nicht darüber nachdenken. Das konnte er nicht glauben. In diesem kleinen Kaff lauerte kein Killer einem alten Mann auf, um ihm in einem beschissenen Wartehäuschen den Garaus zu machen. Außerdem war da noch etwas anderes, das nicht zur Theorie des Auftragsmordes passte. Er wusste noch nicht, was es war, doch bald würde er es erkennen.
»Der Bengel da vorne hat ihn gefunden.« Amstetter deutete mit dem Kinn zu einem dicklichen Jungen in einer dunkelblauen Jacke und einer ebenso dunkelblauen Mütze. Offensichtlich fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut, denn er trat von einem Fuß auf den anderen und blickte abwechselnd auf den alten Mann im Bushaltehäuschen und in die Menschenmenge. Seine Nervosität machte eine vernünftige Aussage unmöglich. Und ohne seine Eltern ließ sich sowieso nichts unternehmen.
»Habt ihr seinen Namen und die Adresse?«
»Ja.« Amstetter nickte. »Der Junge heißt Sebastian Flaig und wohnt gleich um die Ecke. Er war heute Morgen der Erste, der zur Bushaltestelle kam. Es hätte auch jeder andere Schüler sein können. Von hier fahren sie alle mit dem Bus in die Schulen nach Rottweil.«
Außer die, die vorhin die Straßen verstopften, wollte Treidler anmerken, besann sich jedoch eines Besseren. »Gut. Jemand muss ihn nach Hause bringen. Die Eltern sollen den Jungen so schnell wie möglich auf die Polizeidirektion begleiten. Ich will mit ihm reden.«
»Ich denke, das ist nicht nötig. Sein Vater gehört zu den Gaffern da vorne. Der mit der braunen Wolljacke und den gelben Gummistiefeln.«
Treidler ließ seinen müden Blick erneut über die Menschenmenge schweifen, um den Mann zu lokalisieren. Bevor er ihn ausfindig machen konnte, zog eine Frau seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie gehörte nicht hierher. Das lag nicht unbedingt an ihrer halblangen Lederjacke und der leichten Bluse, die sie darunter trug. Freilich wirkte ihre Kleidung im Vergleich zu der der anderen Menschen unzweckmäßig und bei solch niedrigen Temperaturen auch völlig unpassend. Sie steuerte mit energischen Schritten auf die Bushaltestelle zu.
Direkt vor ihm blieb sie stehen und streckte die Hand aus. Und in diesem Moment wurde Treidler klar, dass an der Theorie mit dem Auftragsmord zumindest ein Indiz nicht stimmen konnte: der aufgesetzte Schuss, während der Alte auf der Bank gesessen hatte. Der Mörder konnte kaum größer gewesen sein als ein Jugendlicher. Etwa gerade mal so groß wie die schlanke, fast zierliche Frau vor ihm. Und wer würde schon Jugendliche oder Frauen als Killer nach Florheim schicken?
Wie durch einen dicken Nebel hörte er die Stimme der Frau. »… Carina Melchior … Treidler …«
»Hm?« Er sollte aufstehen und die angebotene Hand ergreifen.
»Hauptkommissarin Carina Melchior. Sind Sie Hauptkommissar Wolfgang Treidler?«, wiederholte die Frau.
Das Wort »Hauptkommissarin« elektrisierte ihn. Er schaute auf und blickte in das schmale, hochwangige Gesicht einer Frau Mitte dreißig. Mit einer Mischung aus Neugier und Verwirrung fixierten ihn zwei dunkle, fast schwarze Augen unter fein geschwungenen Brauen. Ein Knoten am Hinterkopf hielt die dunkelbraunen Haare zusammen. Nur an den Seiten hingen ein paar Strähnen bis hinunter zum Kinn. Die Frisur verlieh ihrem Gesicht einen mädchenhaften Ausdruck. Mit dem braun getönten Teint wirkte sie, als hätte sie gerade drei Wochen am Strand verbracht. Wären da nicht die energischen Züge um ihren Mund gewesen, die verrieten, dass sich die Frau keineswegs zur Erholung eingefunden hatte. Und auch nicht mehr lange auf eine Antwort warten würde.
»Wie war der Urlaub?«, fragte Treidler.
»Urlaub? Welcher Urlaub?«
»Nun ja … Sie sind so braun gebrannt. Mitten im Winter. Das ist schon ungewöhnlich.«
Sie hielt einen kurzen Moment inne, dann funkelten ihre Augen angriffslustig.
»Stellen Sie sich vor, Herr Hauptkommissar Treidler, bei uns in der Stadt gibt es Menschen, die für einen dunklen Teint nicht in den Urlaub fahren müssen.«
»So, so, Sie sind also aus der Stadt«, fuhr Treidler ungerührt fort und betonte jedes einzelne Wort. »Aus welcher denn?«
»Berlin.«
»Das ist ja interessant – Berlin …«
Beide starrten sich
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