Schwarzer Regen
ausländerfeindlich darstellen konnte. Aber ein richtiger Skandal war das noch lange nicht. Immerhin, es war ein Anfang. Sie spürte, dass ihre erste Begegnung mit Heiner Benz nicht die letzte gewesen war.
|37| 3.
Fabienne Berger hatte versucht, gegenüber Nora einen ruhigen, zuversichtlichen Eindruck zu machen, um ihre Freundin nicht noch mehr aufzuregen. Doch sie war innerlich aufgewühlt. Erst vor zwei Wochen war am Elbstrand bei Geesthacht die Leiche eines achtjährigen Mädchens gefunden worden. Vergewaltigt, erwürgt und dann einfach in den Fluss geworfen. Vom Täter fehlte bisher jede Spur.
Es war eine entsetzliche Vorstellung, dass der kleinen Yvi etwas passiert sein könnte. Sie war nur ein halbes Jahr älter als Max. Die beiden kannten sich fast seit ihrer Geburt und spielten praktisch jeden Tag miteinander.
Fabienne hatte ihren Sohn bei Frau Kröger untergebracht, einer zuverlässigen Rentnerin, die als Tagesmutter mehrere Kinder aus dem Block betreute. Jetzt kniete sie vor der Kommode im Schlafzimmer. Ihre Hände zitterten leicht, als sie in der untersten Schublade herumwühlte, zwischen alten Fotoalben, Briefen und ein paar Bilderrahmen aus der Zeit, in der sie noch eine halbwegs glückliche Ehe geführt hatte. Irgendwo hier musste es doch sein.
Endlich fand sie das alte, schmucklose Holzkästchen und holte es mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Misstrauen hervor. Ohne es aufzuklappen, kehrte sie in Noras Wohnung zurück.
Nora stand mit verquollenen Augen in der Küche, in einer Hand das Telefon, in der anderen eine Zigarette. Fabienne hatte keine Ahnung, wo sie die her hatte – ihre Freundin hatte das Rauchen vor Jahren aufgegeben. Vor ihr auf der Anrichte lag eine Liste der Telefonnummern von Yvonnes Klassenkameraden. »… nein … ich wollte |38| nur mal fragen … ja, vielen Dank! Auf Wiederhören!« Sie legte auf.
»Was ist das?«, fragte sie, als Fabienne sich an den Küchentisch setzte und das Kästchen aufklappte. Es enthielt abgegriffene, vergilbte Spielkarten.
»Ein Tarotspiel. Sehr alt. Ich habe es von meiner Großmutter, und die hat es angeblich als Jugendliche von einer Zigeunerin geschenkt bekommen.«
»Du … du willst doch nicht ernsthaft …«
»Lass es mich einfach versuchen, ja? Früher konnte ich es ziemlich gut. Ich habe die Karten schon lange nicht mehr benutzt, aber …«
»Und du meinst, du kannst Yvi finden, indem du Karten legst?«
»Ich weiß es nicht. Manchmal bringen einen die Karten auf die richtige Idee.«
Nora warf ihr einen Blick zu, als zweifle sie am Verstand ihrer Freundin. Doch sie nickte. »Na schön, versuch’s. Es kann ja nicht schaden.« Sie wählte die nächste Nummer auf der Liste.
Fabienne nahm die Karten aus dem Kästchen. Sie waren glatt und weich. Sie hatte das Gefühl, die tausend Hände spüren zu können, durch die das Spiel geglitten war. Sie hielt Nora die Karten hin. »Du musst sie mischen.«
»Moment.« Nora lauschte einen Moment in den Hörer. »Guten Tag, hier ist Nora Linden«, sagte sie. »Ich wollte nur fragen, ob meine Tochter Yvonne bei Ihnen ist. Bitte rufen Sie mich schnellstmöglich zurück, falls Sie wissen, wo sie ist.« Sie nannte ihre Nummer und legte auf. »Schon wieder keiner da! Verdammt!«
Sie starrte die Karten an, als sei sie nicht sicher, ob Fabienne es wirklich ernst meinte. Schließlich nahm sie sie und mischte sie so umständlich, dass Fabienne Sorge hatte, sie könne eine der wertvollen Karten zerknicken. Sie nahm |39| Nora das Päckchen ab und legte die obersten fünf Karten in Form des Schicksalskreuzes aus: zuerst eine in der Mitte für die Ausgangssituation, dann die linke für die Vergangenheit, rechts die Zukunft, unten den Grund oder die Wurzel und oben die Chance oder Krone.
Einen Moment betrachtete sie die Rückseiten der Karten. Eine seltsame Vorahnung beschlich sie. Es war ihr, als hätten die Karten lange darauf gewartet, dass Fabienne wieder ihre Stimmen vernahm.
Sie konnte beinahe wieder die vom Lungenkrebs geschwächte, raspelnde Stimme ihrer Großmutter hören: »Du musst den Karten vertrauen, meine Kleine. Sie sind deine Freunde. Sie belügen dich nie. Doch wenn du nicht richtig hinhörst, wenn du nicht das in ihnen siehst, was sie dir zeigen, sondern das, was du sehen willst, dann können sie dich in die Irre führen. Sei vorsichtig – die Wahrheit zu sehen ist eine gefährliche Sache!« Sie hatte das Kästchen in Fabiennes Hand gedrückt und ihre faltigen, kraftlosen Hände um ihre
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