Schwarzer Regen
gegenwärtige Situation.
Der Teufel. Schon wieder eine der 22 großen Arkana und die vielleicht unfreundlichste Karte im ganzen Deck. Der Teufel stand für Illusionen, Lügen, Täuschung, die Bindung an Laster und negative Angewohnheiten. Es war ziemlich schwer, in dieser Karte etwas Positives zu sehen. In Zusammenhang mit dem Tod konnte sie aber auch bedeuten, dass bestehende Illusionen und Täuschungen losgelassen wurden. Trotzdem gefiel Fabienne überhaupt nicht, was sie sah.
Sie zögerte, bevor sie die obere Karte aufdeckte, die Krone, die Chance und Hoffnung symbolisierte. Sie betete, dass es eine mächtige Karte sein möge.
Der Eremit. Einsamkeit, Isolation, die Zeit der Reife. Doch der einsame Mann mit Stab und Lampe symbolisierte auch die Weisheit – vielleicht etwas oder jemanden, der ihnen in dieser schwierigen Situation helfen konnte.
»Nun mach schon. Dreh die fünfte Karte um.« Trotz ihrer Skepsis bebte Noras Stimme vor Anspannung.
Fabienne zögerte. Sie fürchtete, schon zu wissen, was dort lag. Sie schluckte und deckte die rechte Karte auf, die Zukunft.
Der Turm. Der Zusammenbruch der bestehenden Ordnung.
Fabienne fühlte sich, als sei sie selbst von dem Blitz getroffen worden, der auf der Karte in den Turm einschlug. Flammen leckten aus den Fenstern, brennende Menschen stürzten sich in die Tiefe. Vor ihrem geistigen Auge erschienen plötzlich die schrecklichen Bilder des elften September 2001. Ihr Herz krampfte sich zusammen.
Fünf Karten. Fünf große Arkana. Ihre Großmutter, die Zahlenspielereien liebte, hatte ihr einmal gesagt, dass es etwas ganz Besonderes sei, sollte sie jemals fünf große Arkana |43| ziehen. Das komme nur einmal in achthundert Ziehungen vor.
»Was … was bedeutet das?« Nora schluchzte. »Es ist etwas Schlimmes, oder?«
Mit einer entschlossenen Handbewegung schob Fabienne die Karten zusammen, legte sie in das Kästchen und klappte es zu. Sie rang sich ein Lächeln ab. »Nein, überhaupt nicht. Tarotkarten sehen manchmal etwas düster aus, aber das sind sie nicht. Sie haben nur gezeigt, was wir schon wussten: Es ist etwas Einschneidendes passiert, ein Problem, aber wir werden es lösen!«
Nora sah sie mit glasigen Augen an. »Das stimmt nicht. Du sagst mir nicht die Wahrheit!«
»Hey, das ist nur bedrucktes Papier. Pass auf, du rufst weiter die Eltern an, und ich frage in der Zeit noch mal die Hausbewohner. Vielleicht hat ja jemand etwas gesehen. Kannst du mir ein Foto von Yvi geben?«
»Okay.«
Eine halbe Stunde später klingelte sie enttäuscht und frustriert an der ungefähr hundertsten Tür. Es dauerte eine Minute, bis eine mürrische alte Frau aufmachte. »Ja?«
»Entschuldigen Sie bitte, Frau Lehmann. Ich suche dieses Mädchen.« Sie zeigte das Foto, das Nora ihr gegeben hatte.
»Und?«, fragte die Frau an der Tür. »Was hab ich damit zu tun?« Dieselbe kalte Gleichgültigkeit, die Fabienne schon so oft entgegengeschlagen war. Kaum jemand hatte sich interessiert oder gar besorgt gezeigt.
»Bitte, sie ist heute nicht aus der Schule zurückgekehrt. Es könnte sein, dass sie noch mit dem Schulbus hierhergefahren ist und dann irgendwo auf dem Weg von der Haltestelle bis zum Wohnblock … vom Weg abgekommen ist. Das sind nur etwa zweihundert Meter. Haben Sie vielleicht irgendetwas beobachtet?«
|44| Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gesehen. Und jetzt hab ich zu tun.« Ohne ein weiteres Wort schlug sie Fabienne die Tür vor der Nase zu.
Blöde Zicke, wollte sie rufen, riss sich aber zusammen und ging zur nächsten Tür. Auch nach mehrmaligem Klingeln öffnete niemand. Bei den nächsten beiden Wohnungen hatte sie ebenfalls kein Glück. Sie notierte sich die Namen auf einem Zettel. Sie würde später noch einmal versuchen, dort anzurufen.
»Moment, ich komme gleich«, rief eine männliche Stimme von innen, als sie an der nächsten Tür klingelte. Nach einer Weile öffnete ein dunkelhaariger Mann, ein paar Jahre älter als sie, nicht sehr groß, mit einer drahtigen Figur und dunklen Augen unter buschigen Brauen. Sie hatte ihn ein paarmal gesehen, aber bisher nie ein Wort mit ihm gewechselt.
»Was kann ich für Sie tun?« Etwas an seinem Tonfall war seltsam, aber Fabienne hätte nicht sagen können, was.
»Haben Sie dieses Mädchen gesehen?« Sie hielt ihm das Foto hin.
Er betrachtete es genau. »Ja, warum?«
Fabiennes Herz machte einen Sprung. »Wann? Und wo?«
»Gestern. Sie war unten auf dem kleinen Spielplatz. Aber sie hatte etwas
Weitere Kostenlose Bücher