Schwarzer Schmetterling
Polizist gesagt.
»Ich wette, die alte Schmitz war’s, diese Nutte.«
»Immer schön ruhig. Pass auf, wie du redest«, hatte ihm der Anwalt geraten, den sein Vater engagiert hatte.
»Du bist hier nicht auf dem Schulhof«, hatte Servaz bemerkt. »Weißt du, was euch droht, dir und deinen Kumpels?«
»Das ist doch etwas verfrüht«, hatte der Anwalt halbherzig protestiert.
»Dieser Schlampe fick ich ins Hirn. Die mach ich alle, dieses Miststück.«
»Hör auf zu fluchen!«, hatte ihn der Anwalt entnervt angefahren.
»Jetzt hör mir mal gut zu.« Servaz hatte allmählich genug. »Euch drohen zwanzig Jahre Knast. Rechne selbst: Wenn du rauskommst, bist du ein alter Mann.«
»Bitte«, hatte der Anwalt gesagt, »keine …«
»So alt wie du, meinst du das? Wie alt bist du? Dreißig? Vierzig? Nicht übel, deine Samtjacke! Muss ganz schön was wert sein! Was quatscht ihr da? Wir waren das nicht! Wir haben nichts getan, verdammt! Ehrlich. Seid ihr übergeschnappt, oder was?«
Ein unauffälliger Jugendlicher, hatte sich Servaz gesagt, um die Wut, die in ihm aufstieg, zu entschärfen. Der noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Auch in der Schule hatte er keinen Ärger gemacht. Der Anwalt war kreidebleich, er triefte vor Schweiß.
»Du bist hier nicht in einer Fernsehserie«, hatte Servaz mit ruhiger Stimme gesagt. »Du wirst nicht ungeschoren davonkommen. Die Beweise sind eindeutig. Wenn hier jemand übergeschnappt ist, dann du!«
Jeder andere hätte jetzt irgendeine Regung gezeigt. Aber nicht dieser Junge namens Clément; der Junge namens Clément schien sich der Tragweite der Straftaten, die ihm zur Last gelegt wurden, nicht bewusst zu sein. Servaz hatte schon Artikel darüber gelesen, über diese Minderjährigen, die vergewaltigten, töteten und folterten – und die die Abscheulichkeit ihrer Taten nicht im Geringsten ermessen konnten. Als ginge es um ein Video- oder Rollenspiel, das eben ein bisschen aus dem Ruder gelaufen war. Bis jetzt hatte er nicht daran glauben wollen. Übertreibungen von Journalisten. Und plötzlich war er selbst mit diesem Phänomen konfrontiert. Erschreckender noch als die Gleichgültigkeit dieser drei jungen Mörder war der Umstand, dass solche Taten fast schon alltäglich geworden waren. Die Welt war zu einem riesigen Feld für immer verrücktere Experimente geworden, die Gott, der Teufel oder der Zufall ausheckten.
Als Servaz gestern nach Hause gekommen war, hatte er sich zuerst lange die Hände gewaschen, anschließend hatte er sich ausgezogen und war zwanzig Minuten unter der Dusche geblieben, bis nur noch lauwarmes Wasser kam – eine Art Entgiftung. Anschließend hatte er seinen Juvenal aus dem Bücherregal genommen und die dreizehnte Satire aufgeschlagen: »Gibt es ein Fest, ein einziges, das so heilig wäre, dass es den Gaunern, den Betrügern, den Dieben, den gemeinen Verbrechern, den Halsabschneidern, den Giftmördern, den Geldgeiern eine Verschnaufpause gönnte? Ehrliche Menschen gibt es nur wenige, gerade mal so viele, wie Theben Tore hat, wenn man ganz genau zählt.«
Diese Jungs haben wir zu dem gemacht, was sie sind, hatte er sich gesagt, als er das Buch zuklappte. Was haben sie für eine Zukunft? Keine. Alles geht den Bach runter. Die Gauner füllen sich die Taschen und setzen sich im Fernsehen in Szene, während die Eltern dieser Jungs ihren Arbeitsplatz verlieren und in den Augen ihrer Kinder als Versager dastehen. Weshalb lehnten sie sich nicht auf? Weshalb steckten sie statt Bussen und Schulen nicht die Luxusboutiquen, die Banken, die Villen der Mächtigen in Brand?
Ich denke schon wie ein alter Mann,
hatte er sich im Nachhinein gesagt. Hing es damit zusammen, dass er in einigen Wochen vierzig wurde? Er hatte es seinem Ermittlungsteam überlassen, sich um die drei Jungs zu kümmern. Diese Abwechslung kam ihm gelegen – auch wenn er nicht wusste, was ihn erwartete.
Den Angaben des Gendarmen folgend, umfuhr er Saint-Martin. Unmittelbar nach dem zweiten Kreisverkehr stieg die Straße steil an, und er sah die weißen Dächer der Stadt unter sich. Er hielt auf dem Seitenstreifen und stieg aus. Die Stadt war größer, als er gedacht hatte. Durch das winterliche Grau konnte er kaum die großen Schneefelder erkennen, die er gerade durchfahren hatte, ebenso wenig wie ein Industriegebiet und die Campingplätze im Osten, auf der anderen Seite des Flusses. Es gab auch mehrere Siedlungen mit Sozialwohnungen, die aus niedrigen, langgestreckten Gebäuden
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