Schwarzer Valentinstag
allen Straßen und Plätzen der Stadt drängten sich die Massen wie bei einem Jahrmarkt. Nachts wälzten sich die einen schlaflos im Bett, die anderen lagen bewusstlos im Alkoholrausch. Die Stadthuren in der Paradiesgasse hatten Zulauf wie noch nie.
Die Leute standen in langen Reihen vor den Buden der Wahrsager. Jeden Tag wurden Wahrsager vom Rat aus der Stadt gewiesen, aber am anderen Tag waren sie wieder da und lasen den Leuten aus der Hand, aus gläsernen Kugeln oder aus Ruß. Hoffnung hatte, wer sie verließ – aber am nächsten Tag war diese Hoffnung schon vergangen und der Verängstigte hockte bei einem anderen Wahrsager.
Wer Schuhe zum Flicken gab, wusste nicht, ob sein Flickschuster am anderen Tag noch in der Werkstatt war, ebenso war es bei den Bäckern und Metzgern. Die Metzig, das große Schlachthaus an der Schindbrücke, auf der es immer nach Blut roch, hatte tageweise geschlossen. Das Kaufhaus war verrammelt. Die Brotbänke beim Rathaus standen zum großen Teil leer, die Buden auf der Schindbrücke waren fast alle geschlossen. Die Wirtshäuser waren überfüllt, der Rat erließ immer neue Verbote, die niemand mehr beachtete und die kaum mehr kontrolliert wurden. Betrunkene taumelten durch die Gassen.
Die Bettler bekamen ganze Hände voll Geld, Silber und Gold, als wollten sich die Reichen vom Tod freikaufen.
Nachts, so hörte man, wurde in die Häuser der Geflohenen eingebrochen. Die Diebe hatten eine große Zeit. Die reichen Kaufleute ließen ihre Speicher bewachen, denn die Speicher waren gefüllt, weil der Handel durch die drohende Pest zunehmend zum Erliegen kam. Aber oft liefen die Wachen davon oder sie selbst plünderten die Speicher aus, die sie bewachen sollten.
Prediger standen an den Ecken der Gassen und Straßen, Mönche, Bettler, Bürger, und verkündeten das Ende der Welt.
Im Gewimmel der verängstigten Stadt wirkten die Gassen um den Speicher des Herrn Dopfschütz wie ausgestorben. Bewaffnete schritten langsam auf und ab. Immer zwei standen am Tor und wurden in der Nacht abgelöst.
»Herr Dopfschütz ist vorsichtig«, nickte Christoph anerkennend, »bei ihm ist nie eine Wache allein, so können sie sich gegenseitig kontrollieren.«
»Für uns ist das schlecht. Aber wir müssen in diesen Speicher hinein, und mit Goliath geht es nicht mehr.«
Tags war es unmöglich. Aber auch nachts war es gefährlich. Christoph konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie man in ein so festes und bewachtes Gebäude kommen konnte. Philo schlug vor die Umgebung genau zu betrachten.
Der Speicher stand im übelsten Teil des Gerberviertels, einem kleinen tief gelegenen Areal, das oft überschwemmt wurde und das der Rat deshalb abreißen lassen wollte, um das ganze Gebiet aufzuschütten und neu zu bebauen. Er lag auf bereits aufgefülltem Grund und war ein grauer, massiver, recht hoher Steinbau mit einem steilen Dach, das von langen Reihen unzähliger Gauben besetzt war. Er war ganz vergittert, die Fenster hinter den Eisengittern oft mit Brettern verschlagen.
Es hieß, Herr Dopfschütz habe ihn vor kaum zwei Jahren von der Stadt gekauft. Jeder habe sich gewundert, weil er für die Zwecke eines Kaufmanns viel zu groß sei.
Eine kurze gepflasterte Gasse führte als Zufahrt aufwärts zu seinem eisenbeschlagenen Portal. Hier stand die Doppelwache.
»Von hier aus ist nichts zu machen.«
Dieselbe Gasse ging dann an der Längsseite des Speichers entlang und mündete auf der Rückseite des lang gestreckten Gebäudes in eine andere Gasse. Beide Gassen waren dunkel, umstanden von längst unbewohnten Häusern, in deren Fensterhöhlen Unkraut wucherte, von Bretterverschlägen und Gerberschuppen. Überall waren noch die Stangen und Seile zu sehen, an denen einst Tierhäute zum Trocknen aufgehängt worden waren, aber alles war längst unbrauchbar geworden, die Stangen durchgebrochen, zerfetzte Seile hingen herab. Abfälle und Kot hatte man bedenkenlos hingeworfen, überall faulte es, wuchsen Gras und Unkraut, Ratten huschten durch die Nässe. Nur die Zufahrt zum Speicher war gesäubert.
Dunkel war auch der Hof, der sich auf der anderen Längsseite des Speichers zu einem finsteren Gebäude hinzog. Es war die Rückseite eines sehr großen, baufälligen Hauses, das mit seinem Giebel fast rechtwinklig so an die Seite des Speichers stieß, dass die Dächer der beiden Gebäude miteinander verbunden waren. In dem Hof, in den das ganze Jahr kein Sonnenstrahl fallen konnte, stand allerlei unbrauchbar gewordenes
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