Schwarzer Valentinstag
antwortete Balthas, »vielleicht sind die Mittel, die man oft für harmloses Spielzeug hält, in Wirklichkeit viel gefährlicher: Wer hätte es gedacht – ein geschnitzter Kopf auf einem hohlen Stecken fliegt in die Luft, und dann ist es vielleicht eine ganze Stadt, die in Trümmern liegt!«
»Was ist eigentlich Salpeter?«, fragte Nachum.
Löb wusste es: »Salpeter wird aus Persien eingeführt. Ich habe schon oft mit ihm gehandelt. Man kann ihn aber auch in unreinerer Form von den Wänden der Ställe kratzen. Er ist ein sehr wichtiger Ausgangsstoff, aus dem man im Bergbau Scheidewasser macht.«
»Scheidewasser?«
»Scheidewasser trennt edle von unedleren Metallen, indem es die unedleren auflöst, die edleren aber verschont.«
»Man sollte es fast ausprobieren. Wir kennen ja die Zusammensetzung – « Nachums Augen begannen zu glühen.
»Nachum, nein«, sagte der alte Abraham ruhig, »unsere Waffe ist das Wort. Wo Worte schweigen und Waffen sprechen, ist nicht unsere Welt. ›Du sollst den Fremdling lieben wie dich selbst!‹, steht in der Thora.«
»Was das alles bedeuten wird, man kann es kaum absehen.« Löb legte Nachum ernst die Hand auf die Schulter.
Der alte Abraham wiegte den Oberkörper: »Die ganze Welt wird sich ändern! Keine Ritterrüstung wird mehr schützen. Keine Tapferkeit, kein Turm, keine Mauer! Das Töten wird leicht werden, denn es geschieht nicht mehr mit der Hand. Kaiser und Könige werden stürzen, denn man wird die Macht kaufen können für Geld: Macht hat, wer Geld für Waffen hat – ganze Völker werden verschwinden! Neues, ganz Anderes wird entstehen, das wir nicht ahnen und das sich auf Zerstörung gründet – und wehe den Menschen, wenn sie diesem Neuen nicht gewachsen sind: Sie werden untergehen.«
Er erhob sich.
»Ich aber bin müde und froh, dass ich das, was kommen wird, nicht mehr erleben muss.«
Langsam und gebeugt wie unter einer großen Last ging er zur Türe.
Dort drehte er sich um: »Kinder, ich segne euch. Dich, arme Esther, und dich, armer Christoph, und dich, armer, reicher Philo, und ganz besonders dich, lieber, lieber Nachum, der du so voller Eifer bist.«
Die Flocken fielen einzeln und still zur Erde. Sie fielen auf die Häuser der Christen und der Juden und machten alle Dächer gleichmäßig weiß. Sie fielen auf Straßen, Plätze und Gassen, wo sie zu einem bräunlichen Matsch wurden. Sie fielen auf die Stege an der Ill und machten ihr Wasser noch schwärzer.
Christoph ging durch die weiß werdende Stadt und achtete kaum auf die Menschen, denen er begegnete.
Er dachte an Weihnachten, wie die Mutter den Kindern, als die Geschwister noch gelebt hatten, am Morgen des Weihnachtstages Geschenke gegeben hatte. Er erinnerte sich an den gemeinsamen Gang zur Kirche, wo man warm zwischen Vater und Mutter saß. Weihnachten, das war zuerst die sanfte Hand der Mutter, die einen morgens geweckt hatte!
Neben ihm ging Esther und erzählte vom bevorstehenden Chanukkafest: »Weißt du, da bekommen wir Geschenke, du bekommst auch welche, ich weiß das schon. Das Schönste aber ist der Chanukkaleuchter, der acht Kerzen hat. Jeden Tag wird eine Kerze mehr angezündet. Es ist die Erinnerung an die Einweihung des zweiten Tempels. Man hat damals eine kleine Flasche mit Öl gefunden, das höchstens für eine Stunde Licht in der Ampel reichen konnte. Aber es hat acht volle Tage lang gebrannt.«
Christoph war stehen geblieben und starrte in einen Arm der Ill. Ein Stück Holz mit einer Haube aus Schnee schaute dort aus dem dunklen Wasser, obwohl das Wasser kaum einen Finger breit darunter floss. Wenn das Wasser auch nur geringfügig wuchs oder eine winzige Welle –
»Sag mal, hörst du überhaupt zu? Ich rede und rede – «
Christoph schwieg. Nach einiger Zeit nahm er ihre Hand und drückte sie lange an sein Gesicht: »Entschuldige bitte, ich war in Gedanken woanders.«
Sie gingen Hand in Hand schweigend über die weißen Felder illabwärts zum Judenfriedhof. Dort zeigte ihm Esther die Gräber ihrer Vorfahren.
Abraham hatte es erlaubt: »Ihr seid nicht allein – die Vorfahren sind mit euch.«
»Es heißt, wir stammen aus dem Geschlecht der Kalomyniden. Mein Urahn Kalomynos ben Mose stammte aus Lucca in Italien,von wo er vor über fünfhundert Jahren von dem großen Kaiser Karl an seinen Hof nach Aachen geholt worden ist, wo er auch begraben liegt. Er war ein Rabbi und ein sehr bedeutender Gelehrter und hat viele Bücher geschrieben«, sagte sie stolz. »Vater soll dir
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