Schwarzkittel
wahrscheinlich zum Zeitpunkt seines Baus vor 30 Jahren ganze Busladungen mit Architekturstudenten angezogen hatte. Inzwischen hatte der Zahn der Zeit am Klinker genagt, er war vergraut und unansehnlich geworden. Der Vorgarten war zum Großteil mit den zeitgeisttypischen Waschbetonplatten aus gelegt, auf denen einige bepflanzte Terrakottatöpfe standen. Ich war mir durchaus bewusst, und auch Stefanie warf es mir in regelmäßigen Abständen vor, dass meine Geschmackssicherheit nicht unbedingt sehr ausgeprägt war. Das Bild, das ich hier sah, stammte bestimmt nicht von einem Gartengestalter, sondern zeugte eher von zahlreichen Zufallskäufen in diversen Baumärkten. Und wenn das sogar mir auffiel, musste etwas dran sein.
Zwischen zwei besonders hässlichen Amphorennachbildungen stand ein verzinkter Fahrradständer. Auf einem der größeren Metallhalbkreise saß eine junge blonde Frau mit dem Rücken zu mir. Ich sprach sie an. Keine Reaktion. Verwundert ging ich einen Schritt auf sie zu. Unbeweglich saß sie da. Ich berührte ihre Schultern. Wie vom Blitz getroffen, sauste sie in die Höhe und schrie ungefähr doppelt so laut wie vorhin Hagen. Beinahe wäre ich rückwärts in einen der Tontöpfe gefallen. Ich konnte mich gerade noch am Rand einer der pseudoantiken Amphoren halten, die zwar bedrohlich wackelte, aber glücklicherweise recht standsicher war.
Die Frau stand mit offenem Mund vor mir und starrte mich an.
»Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Sie nicht erschrecken«, versuchte ich sie zu beruhigen.
Keine Reaktion, sie stand weiterhin mit offenem Mund da.
Plötzlich entspannten sich ihre Gesichtszüge und sie zog zwei Ohrstöpsel aus ihren Gehörgängen, die wohl mit einem dieser modernen Musikabspielgeräte verbunden waren. Ich kannte das Phänomen des Nicht-gehört
Werdens, beziehungsweise des Nicht-hören-Wollens zur Genüge von meiner eigenen Tochter.
»Können Sie mich jetzt verstehen?«, fragte ich die sicherlich noch nicht volljährige Dame bewusst langsam und überdeutlich.
»Ja, ja«, stotterte sie im ersten Moment vor sich hin. »Mann, haben Sie mich aber erschreckt.«
»Es tut mir leid, das wollte ich nicht. Sind Sie eine der Angestellten der Praxis?«
»Ja, ich bin im zweiten Lehrjahr. So etwas passiert heute zum ersten Mal. Weder der Chef noch die Chefin machen auf. Dabei kommen doch gleich die ersten Patienten.«
Hm, wie sollte ich es ihr nur beibringen, dass die Praxis heute und wohl auch in Zukunft geschlossen blieb?
»Sind Sie die einzige Angestellte bei Doktor Dipper?«
»Nein, seine Frau macht die Praxisleitung. Außerdem gibt es noch die Petra, die hat schon ausgelernt.« Sie blickte kurz auf ihre Uhr. »Die müsste eigentlich auch schon da sein.« Erst in diesem Moment schien sie sich zu fragen, was ich eigentlich von ihr wollte.
»Sie sind aber kein Patient bei uns? Ich habe Sie hier noch nie gesehen und ein Kind scheinen Sie auch nicht dabeizuhaben.«
»Nein, ich bin kein Patient. Ich –«
Ich wurde von einer weiteren Blondine unterbrochen, schätzungsweise Anfang 20 und mit Modelmaßen ausgestattet, die eben gerade von ihrem Fahrrad stieg.
»Morgen, Nicole, was stehst du um diese Zeit hier draußen herum? Gleich kommen die ersten Patienten.«
»Morgen, Petra«, antwortete die Auszubildende. »Ich kann leider nicht rein, es macht keiner auf.«
»Wie bitte? Das kann doch nicht sein.« Petra ging zur Klingel und drückte diese mehrfach. »Was soll das denn jetzt schon wieder?«, fragte sie sich selbst. In diesem Moment bemerkte auch sie, dass neben Nicole ein ihr fremder Mann stand.
»Wissen Sie, wo Doktor Dipper und seine Frau sind?«, sprach sie mich an.
»Ja. Mein Name ist Palzki, ich bin Polizeibeamter. Sehe ich das richtig, Sie beide kommen nicht in die Praxis hinein?«
»Doch, doch«, stotterte die Ältere. »Ich habe einen Schlüssel. Manchmal muss Doktor Dipper gleich morgens zu einem Notfall. Und seine Frau ist zuweilen ebenfalls verhindert, das kündigt sie aber immer vorher an. Sie sind von der Polizei? Ist was passiert?«
»Langsam, können wir vielleicht erst einmal hineingehen?«
Ohne sich von mir Dienstmarke oder Ausweis zeigen zu lassen, fummelte die junge Dame den Praxisschlüssel aus den Tiefen ihrer Handtasche und schloss auf.
Ich dirigierte die beiden ins Wartezimmer.
»Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Chef am frühen Morgen verstorben ist, mein herzliches Beileid.«
Ich hasste die Szenen, die darauf regelmäßig folgten. Zuerst
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