Schweig still, mein totes Herz (German Edition)
– und es gab genug Frauen in den Zwanzigern, die das Weite suchten, ohne ihren Vater in ihre Pläne einzuweihen, selbst wenn der nicht in einem Staatsgefängnis einsaß. Was den Pfarrer in Wahrheit antrieb, war die Seelenrettung eines verirrten Schäfchens, eines verurteilten Mörders.
Als Nächstes würde er sie noch bitten, Hale zu vergeben.
Paul kam über den Flur auf Caitlyn zu, nahm sie an der freien Hand, und sie ließ sich von ihm die sechs Schritte bis in seine Wohnung führen. Seine Hand war fest und brachte sie in die Wirklichkeit zurück, weg von den Erinnerungen, die ihr den Verstand vernebelt hatten. Jazz drang aus der Stereoanlage; der Tisch war gedeckt, Wein eingeschenkt, Kerzen brannten, ein liebevoller Partner wartete auf sie.
»Das liegt nicht in meiner Macht. Ich kann Ihnen nicht helfen.« Sie tat, was sie bereits vor zehn Minuten hätte tun sollen. Sie beendete das Gespräch und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Mann zu, der vor ihr stand, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Tut mir leid, Paul. Die Arbeit.«
»Etwas Wichtiges?«
Sie atmete tief ein und lächelte noch breiter. »Nein. Ein alter Fall, der nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fällt. Hat nichts mit mir persönlich zu tun.«
Er schluckte die Lüge, nahm ihr die Tasche ab und schloss sie in die Arme, um sie richtig begrüßen zu können. Caitlyn schmiegte sich fester an ihn, als sie vorgehabt hatte. Sie sog seinen Duft ein: ein verführerisches Gemisch aus Sandelholz und Kochgewürzen. Wie gut das tat. Er war das Beste, das ihr je passiert war.
Dieser Gedanke führte sie wieder zu Lena. Welche Ironie, dass Eli Hales Tochter ein Leben lang versucht hatte, die Unschuld eines geständigen Mörders zu beweisen, während Caitlyn ihr Leben der Jagd auf Mörder wie Eli Hale gewidmet hatte und damit posthum die Anerkennung ihres Vaters gewinnen wollte. Sie beide führten einen aussichtslosen Kampf.
Vielleicht hatte Jessalyn doch recht und Caitlyn würde niemals ihr Glück finden, ehe sie nicht bereit war, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Möglicherweise rief Paul deswegen so viele Ängste in ihr hervor. Er bot ihr eine Zukunft, von der sie nicht wusste, ob sie sie verdient hatte.
3
Um sie herum waren nur fensterlose Wände. Eine Vorratskammer vielleicht oder ein begehbarer Kleiderschrank, aus dem die Regalbretter und Kleiderstangen entfernt worden waren. Der schäbige Teppich war so alt, dass er sich an den Enden bereits aufrollte. Es roch nach Schweiß und Schmalz. Unerreichbar weit über ihr hing eine nackte Birne von der Decke, deren Glühfaden schnarrte wie Moskitos in einer warmen Sommernacht; eine Schnur zum Ein- und Ausschalten baumelte herab. Allerdings schaltete sie das Licht immer nur dann ein, wenn die Dunkelheit sie zu überwältigen drohte, da sie nicht riskieren wollte, dass die Lampe den Geist aufgab.
Es gab keine Steckdose, die sie mit einer Haarklammer und einem Kaugummi in ein Leuchtsignal wie das von Batman verwandeln hätte können. Wenn sie denn überhaupt Kaugummi oder eine Haarklammer dabeigehabt hätte. Keine Fußleisten, die sie abziehen und als Waffe einsetzen könnte. Unter dem Teppich war der Boden mit Sperrholz ausgelegt, die Bretter festgetackert. In ihrer Verzweiflung hatte sie schon daran herumgezerrt. Vergeblich.
Möbel gab es ebenfalls nicht, es sei denn, man zählte die kleine chemische Toilette in der hinteren Ecke dazu. Gerade genug Platz für sie, sich hinzulegen, wenn sie den Schlafsack schräg ausbreitete. Aber sie hatten ihr einen Vorrat an Wasserflaschen sowie an hochkalorischen Proteinshakes dagelassen. Außerdem Cracker und Erdnussbutter – genug für eine Woche, wenn sie sich alles einteilte – und dieser Raum, wo immer er sich befinden mochte, was immer er einmal gewesen sein mochte, ehe er zu ihrem Gefängnis wurde, war warm genug, solange sie ihren Mantel anbehielt.
Ihre Gesichter hatte sie nicht wirklich erkennen können. Das ließ sie hoffen.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie bereits hier drin war. Angerührt hatten sie ihre Entführer nicht, nur durchsucht, während sie bewusstlos gewesen war. Dabei hatten sie ihr alles abgenommen, das als Waffe infrage kam, auch ihre Armbanduhr, die sie schmerzlich vermisste, sodass die Leere nun nur von Verzweiflungsanfällen und kurzem Aufschrecken durchbrochen wurde.
Die Schuhe hatten sie ihr auch abgenommen. Aus irgendeinem Grund konnte sie nicht aufhören, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Teuer waren sie nicht
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