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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roel Verschueren
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wieder nach Breslau, wieder an die Front und dann, Ende November 1944, krankgemeldet und zurück nach Hause.«
    »Was bedeutet ›zurück nach Hause‹?«
    »Wenn er wirklich krank war, dann wollte er sich lieber in Flandern pflegen lassen als in einem Lazarett – was ich verstehen kann – und ist deshalb weggefahren. Wenn er nicht krank war, ist er desertiert.«
    »Was?«
    Jozef wartete, während er die Akte durchging, und sagte erst nach eine Weile: »Victor, ich benutze hier Desertieren als Deskription und nicht als Urteil.« Er hielt seine Augen auf das Papier gerichtet.
    »Das hast du heute Morgen in deinem Seminar auch gepredigt.«
    Jozef sah auf und schüttelte den Kopf. »Du warst heute Morgen in meiner Vorlesung?«
    »Kurz, nicht lange. Ich hatte Zeit und wollte dich sehen, bevor ich dir begegnen würde.«
    »Das hättest du mir ruhig sagen können«, sagte Jozef verstört. »Und was hast du dir gemerkt?«
    »Dass man nur einmal desertieren kann.«
    »Hast du verstanden, was ich damit meinte?«
    »Ja, aber ich bin nicht deiner Meinung.«
    Jozef stand auf, warf die Akte auf einen leeren Tisch und hob die Arme in die Luft. »Victor ist nicht meiner Meinung. Endlich mal ein Student, der nicht meiner Meinung ist!«
    Victor verstand nicht, worüber Jozef sich so aufregte, zog den Kopf zwischen die Schultern und spreizte seine Hände wie ein Diakon. Jozef spazierte durch das Zimmer, nahm eine Zigarette von seinem Schreibtisch und kam zu Victors Sessel. »Darf ich?«, fragte er und nahm Victors Feuerzeug, ohne auf Antwort zu warten. Er setzte sich und sagte: »Endlich etwas Widerstand, wie undifferenziert und primitiv auch immer, aber endlich etwas Widerstand. Du weißt gar nicht, wie viel Freude du mir damit bereitest, Victor.«
    »Warum habe ich das Gefühl, dass du das nicht ernst meinst?«
    »Ich unterrichte hier inzwischen seit zwanzig Jahren. Und ich warte immer noch auf den ersten Studenten, der sagt, dass er nicht meiner Meinung ist.«
    »Vielleicht sind sie zu jung, vielleicht haben sie keinen persönlichen Bezug zu dem, was du unterrichtest.«
    »Das könnte für die heutigen Studenten eine Erklärung sein, aber ich doziere schon seit zwanzig Jahren über dasselbe Thema. Noch einmal, desertieren ist ein einfaches Verb und ein militärischer Ausdruck mit einer klaren Definition. Ich sage, dass Albert ›möglicherweise‹ von der Armee desertierte. Er desertierte nicht von seiner Familie oder seinem Land. Und das ist es doch, was du unterstellst, nicht?«
    »Hmm … Ich finde, dass er durch seine Kollaboration sein eigenes Land verraten hat, und sollte er desertiert sein, dann hätte er obendrein seine ursprünglichen Ideale verraten.«
    »Ganz schön heavy, Victor«, sagte Jozef. »Aber ich lehre Geschichte, keine Psychoanalyse.«
    Victor schaute wieder in die Akte. »Was für Daten sind das hier?« Er hielt Jozef ein Blatt aus dem Stapel unter die Nase. Der schaute es an und suchte dieselbe Seite im Original, das vor ihm lag.
    »Das sind die Tage, an denen Albert verhört wurde, und daneben der Ort, wo das stattgefunden hat. Er wurde während seiner Gefangenschaft siebzehn Mal vernommen und hat fünfmal seine Geschichte neu aufschreiben müssen, jedes Mal für eine andere Untersuchungskommission.«
    »Was sagt das über ihn aus? Ich meine, bedeutet das, dass er wichtig war? Hat er schwere Verbrechen begangen?«
    »Nein, das war ziemlich normal bei einem Offizier. Die Behörden versuchten auf diese Weise, Namen anderer Kollaborateure in Erfahrung zu bringen, besondere Ereignisse, Hierarchien, Dienstgrade, Zuständigkeiten. Sie suchten nach Differenzen zwischen den verschiedenen Fassungen oder nach Lücken.«
    »Befinden sich Vaters Berichte auch in der Akte?«
    »Niemals. Das sind Staatsgeheimnisse. Selbst wir bekommen da keine Einsicht«, sagte Jozef.
    »Und dieser Code hier?«
    »Der bezieht sich auf den strafrechtlichen Grund der Verurteilung. Er bedeutet einfach, dass er militärisch kollaboriert hat. Es gibt andere Codes für ökonomische und politische Kollaboration.«
    »Mir fällt auf, dass du ziemlich oft das Wort ›normal‹ verwendest. Was ist daran so ›normal‹?«
    »Weil ich diese Daten auf eine andere Weise betrachte. Nimmt man die Kollaboration als Faktum, dann sind bestimmte Dinge normal und andere eher unnormal.«
    »Was ist denn unnormal für dich?«, fragte Victor.
    »Im Rahmen der Nachkriegsrepression ist es beispielsweise unnormal, dass ein junger Soldat der Flämischen Legion,

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