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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Haltung, ein Maschinengewehr auf ein Dreibein zu heben. Das stählerne Gewicht wirkte irgendwie beruhigend. Er versuchte, nicht darüber nachzudenken, was eine Waffe mit dieser Feuerkraft anrichten konnte.
    »Lange Haare«, meinte Fenn. »Braun, glaube ich, könnten aber auch rot sein. Weshalb?«
    Carsten versuchte einen Blick durch die Scheibe zu erhaschen, sah aber nichts als verschwommenes Graugrün. »Das ist die Frau, deren Partner von Sandra erschossen wurde.«
    »Rück mal ein Stück zur Seite«, bat Hagen Fenn. Er schob das Maschinengewehr mit der Mündung näher an die zum Wald gewandte Scheibe. Sie hockten gebückt am Boden, um hinter der niedrigen Mauer nicht gesehen zu werden.
    »Deckt die Falltür mit Kisten ab«, rief Fenn über die Schulter. »Ist der Eingang dicht?«
    »Alles klar«, erwiderte Nina von unten. »Wir haben alle Kisten vor die Tür geschoben. Da kommt keiner mehr rein – und keiner raus.« Ihre Stimme klang matt, wie die aller anderen. Jeder wusste, was ihnen bevorstand. Ihre Chancen, den Turm lebend zu verlassen, waren gering.
    Hagen drehte sich zu ihm um. »Mach das Fenster auf, wenn ich es dir sage. Das muss schnell gehen.«
    Carsten nickte. Die Scheiben ließen sich seitlich verschieben. Der Radius des Maschinengewehrs würde von diesem Punkt aus fast den gesamten Waldrand abdecken.
    Sandras Kopf erschien im Treppenschacht. »Lass Junior das machen. Carsten soll unten warten.«
    Fenn schüttelte den Kopf. »Er bleibt hier. Hier oben ist es zu gefährlich, als dass wir auch noch Juniors Hals riskieren könnten. Falls uns etwas passiert, musst du mit ihm die Dokumente verteidigen. Carsten ist dir dabei keine Hilfe.«
    Was er meinte war klar. Carsten war am ehesten zu ersetzen. Sandra warf ihm einen traurigen Blick zu und tauchte wieder im ersten Stock unter.
    Er starrte auf die leere Öffnung, sah Nina, die ihn von unten ängstlich ansah, als plötzlich durch den prasselnden Regen eine Stimme ertönte.
    Michaelis.
    »Fenn!«, rief er. Das Wort klang durch die elektronische Verfremdung eines Lautsprechers seltsam verzerrt. Einen Augenblick lang hallte aus der Schlucht eine gespenstische Kette von Echos wieder.
    »Fenn«, wiederholte Michaelis, »ich muss mit Ihnen sprechen. Nicht, weil ich es möchte, glauben Sie mir, sondern weil ich den Befehl erhalten habe. Also bringen wir es hinter uns.«
    Fenn schob das Fenster auf, blieb aber in Deckung. Nässe und Sturm brachen heulend herein. »Was wollen Sie?« Das Hämmern des Regens drohte seine Worte zu verschlucken.
    »Muss ich Ihnen das noch sagen? Die Dokumente, Fenn, sonst nichts. Von mir aus können Sie und Ihr ganzer Haufen danach verschwinden und zum Teufel gehen.« Er machte eine kurze Pause. »Carsten, können Sie mich hören? Überzeugen Sie Ihren Freund, dass ich es ehrlich meine. Denken Sie auch an Nina. Wenn wir die Dokumente bekommen, wird Ihnen nichts geschehen.«
    Hagen schüttelte den Kopf. »Dieses Schwein.«
    Carsten hob seinen Kopf einige Zentimeter über den Fensterrand. Michaelis stand am Rand des Ödlandstreifens, eine dunkle Gestalt, in der einen Hand das Megafon, in der anderen ein Gewehr. Mit wehendem Mantel stemmte er sich gegen den peitschenden Regen und sah zum Turm hinüber.
    »Warum hat er ein Gewehr dabei, wenn er verhandeln will?«, fragte Carsten.
    Hagen grinste bitter. »Er befolgt nur Befehle, er will nicht verhandeln. Das Gewehr soll uns zeigen, weshalb er wirklich hier ist. Wenn wir unterliegen, kommt nicht einer von uns lebend hier raus.«
    »Fenn, hören Sie mir noch zu?«, meldete sich Michaelis erneut zu Wort.
    Fenn schüttelte den Kopf. »Eines muss man ihm lassen«, meinte er leise, »er hat Nerven.«
    »Dafür werden wir ihn gleich mal belohnen«, sagte Hagen, packte den Griff des Maschinengewehrs und schob die Mündung durchs Fenster. Ehe irgendjemand es verhindern konnte, zog er den Abzug durch. Krachend jagte eine langgezogene Salve hinaus ins Unwetter. Carsten sah, wie Michaelis sich nach hinten warf und hinter einem Erdwall in Deckung ging. Dort, wo er noch vor einer Sekunde gestanden hatte, explodierte der Boden in einem spritzenden Chaos aus Schlamm und Gestein. Hagen ließ den Abzug nicht mehr los. Salve um Salve feuerte er hinüber zum Waldrand und drehte das Gewehr dabei in einem Sechzig-Grad-Winkel. Der Krach war ohrenbetäubend. Carsten sah, wie eine Gestalt zwischen zwei Bäumen in die Luft und nach hinten geschleudert wurde, als gleich mehrere Kugeln ihren Körper

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